Das Geheimnis der toten Voegel
1
Ruben Nilsson trat in die Sommerdämmerung hinaus und klopfte seine Pfeife auf dem Geländer der Veranda aus. Wenn er gewusst hätte, wie wenige Stunden das Leben nur noch für ihn bereithielt, hätte er vielleicht eine andere Eile verspürt. Der Wind war abgeflaut, die Bäume warfen lange Schatten über den gepflegten Rasen, und er blieb mit einem Gefühl der Wehmut stehen. Vielleicht war es der Duft, der ihn an Angela denken ließ, dieser süße Duft von Falschem Jasmin, der im Dunst der Abendbrise herüberwehte. Die Blumen hingen in großen Trauben über die Steinmauer und leuchteten seltsam weiß in der Dämmerung.
Als Ruben die Äste berührte, sanken die Blütenblätter wie Schneeflocken auf den Boden. Zu spät. Eben noch hatte der Falsche Jasmin in voller Blüte gestanden. Dieses Erlebnis musste an ihm vorübergegangen sein. Jetzt war der Duft ein wenig fad, die Blütenblätter schon runzelig und an den Rändern braun. Zu spät, genau wie damals, als er Angela Stern geliebt hatte, aber nicht die richtigen Worte finden konnte. Der Gedanke daran schmerzte immer noch.
Auf dem Mittsommerfest bei den Jakobssons in Eksta hatte sie sich neben ihn gesetzt, hatte seinen Hemdkragen zurechtgerückt und ihren Arm unter den seinen geschoben, als sie vom Tisch aufstanden. Sie waren in einem immer erdrückenderen Schweigen durch den Garten spaziert. Der Augenblick war groß, und alles, was ihm zu sagen einfiel, während er mit der schönsten Frau Gotlands Arm in Arm unter den Linden ging, war, dass der Wollpreis dieses Jahr wahrscheinlich schlecht werden würde, dass aber die Kartoffeln gut seien. Sie hatte geduldig zugehört und dann auf die Laube gewiesen. Den Blick, den sie ihm in diesem Moment zugeworfen hatte, würde er niemals vergessen. In der grünen Blätterhöhle vor allen anderen verborgen, hatte er sie in den Arm genommen. Das Einverständnis war den ganzen Abend da gewesen, die Blicke, die man nicht übersehen konnte, und die leichte Berührung, sowie sie in seine Nähe kam.
Der Erdbeerduft vom Falschen Jasmin war berauschend gewesen. Der dünne Stoff ihres Kleider spannte über dem Busen und über der weichen Rundung der Hüften – das hatte ihn verlegen und stumm gemacht, während ihm die Reaktionen in seinem eigenen Körper sehr bewusst gewesen waren. Eben war sie noch ein Kind, eine Spielkameradin gewesen. Angela mit dem Engelshaar, das sich wie gesponnenes Gold über ihre Schultern ergoss, mit den blaugrünen Augen und der leicht hervorstehenden Oberlippe, die er einfach küssen musste. In der Blätterhöhle fasste er Mut und tat es. Es war ein etwas missglückter Kuss geworden, die Zähne schabten aufeinander, und beide hatten sich etwas verschämt zurückgezogen.
Er hatte versucht, etwas vorsichtiger zu Werk zu gehen, und gemerkt, wie sie weicher wurde. Ihre Hände hatten seinen Rücken gestreichelt und waren langsam an den Muskeln entlang unter das Hemd geglitten. Als ihre Fingernägel vorsichtig über seine Haut kratzten und ihr Atem schneller wurde, hatte er einen leichten Schauder verspürt, der sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Hand hatte sich den Weg in ihre Unterhose gebahnt, und sie hatte sie in der Bewegung eingefangen und festgehalten. Wie sehr liebst du mich, Ruben? Sie hatte ihm direkt in die Augen geschaut, ohne dem Blick auszuweichen, und darauf gewartet, dass er das unmögliche Losungswort aussprach. Wie sehr willst du mich? Wie sehr liebst du mich? Und er hatte geantwortet, indem er sein pochendes Glied an ihren Bauch gedrückt hatte. Sie war zurückgeschreckt, und er hatte ihre Hand dorthin geführt, wo er sie sich wünschte, damit sie spüren konnte, dass er steif war, und begreifen, wie sehr er sie wollte, wie sehr er sich nach ihr gesehnt und an sie gedacht hatte.
Hör auf! Ihr Körper war erstarrt. Er wollte sie berühren, aber sie entzog sich. Das Lächeln in ihrem Gesicht war erloschen. Als er immer noch nichts sagte, hatte sie ihn von sich weggeschubst und war zu den andern gelaufen. Er hatte sie eingeholt und versucht, sie von hinten zu umarmen. Sag doch was, du dummer Idiot, flüstere die Worte, die sie hören will. Aber die Worte hatten sich niemals eingefunden, damals nicht, und auch heute kaum, fünfzig Jahre später, als er darüber nachdachte, was er hätte sagen müssen, um den Lauf der ganzen Geschichte zu verändern. Wie sehr liebst du mich? Was antwortet man darauf? Liebe kann man doch nicht abwägen und messen. Sie hatte sich mit einem Zorn, den er
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