Das Geheimnis der toten Voegel
Schürfwunden im Gesicht angerannt kam, hatte Ruben die Schuld wie eine Hand gespürt, die ihm die Kehle zudrückte.
»Hilfe! Ich glaube, Erik ist tot! Er rührt sich nicht. Er antwortet nicht. Es blutet! Ich glaube, er hat sich den Kopf an einem Stein angeschlagen. Wir sind vom Weg abgekommen. Kommt mit!« Ihre aufgeregte Stimme war in Schluchzen übergegangen. Ruben hatte seinen Bruder nicht tot sehen wollen. Er hatte sich nur gewünscht, dass er weniger übermütig wäre und einen Dämpfer bekäme, das war alles.
Sie waren in die Richtung gelaufen, in die Angela gewiesen hatte. Ruben war als Erster am Unfallort angekommen.
»Erik! Lieber kleiner Bruder!« Er antwortete nicht. Er rührte sich nicht, lag nur mit dem Körper in einem seltsamen Winkel verkrümmt da unter dem Motorrad. Auf dem Stein neben seinem Kopf war Blut, und seine weiße Hemdbrust rötete sich immer weiter. »Erik!« Ruben beugte sich hinab, um das Motorrad wegzuheben, und viele Hände halfen ihm. Großer Gott, lass ihn am Leben sein!, dachte er. Er rüttelte seinen Bruder an der Schulter und hielt die Hand über sein Gesicht, um zu spüren, ob er noch atmete. Die andern hatten sich hinter seinem Rücken versammelt.
»Was ist los mit ihm? Spürst du seinen Puls?« Ruben griff an die Innenseite von Eriks Handgelenk. War da ein Puls zu spüren? Vielleicht war es sein eigener. Er konnte es nicht unterscheiden. »Fass an die Halsschlagader«, sagte Gerda Jakobsson, die oft bei der Gemeindeschwester aushalf.
Dann wurde alles so still. Ein hohles, ungeduldiges Warten. Und alle Blicke waren auf Ruben gerichtet, als könnte er, wenn er nur wollte, ein Wunder vollbringen und seinen Bruder von den Toten auferwecken. Er merkte, dass er die Finger in seiner Angst viel zu fest auf die Haut gepresst hatte, und lockerte den Griff ein wenig. Ja, da am Hals, da konnte er den Puls spüren. Jetzt ganz deutlich. Erik bewegte sich und schlug die Augen auf, ein Stimmengewirr brach in die Stille ein.
»Er muss ins Krankenhaus, bestimmt hat er eine Gehirnerschütterung«, sagte jemand.
»Niemals!« Erik setzte sich halb auf und sank dann wieder zu Boden und hielt sich den Kopf. Sein Gesicht war bleich, als er das Hemd hochschob und seinen Bauch betrachtete. Er hatte eine anständige Schürfwunde abbekommen, aber nichts Tieferes. »Was ist mit dem Motorrad?«, stöhnte er.
Genau, Ruben konnte sich daran erinnern, als sei es gestern gewesen. Was ist mit dem Motorrad?, war das Erste gewesen, was sein Bruder gefragt hatte, als er wieder bei Bewusstsein war. Er fragte nicht nach Angela, die im Graben saß und weinte. Erik sah sie nicht. Sie hätte ebenso gut tot oder schwer verletzt sein können.
Es gab dann keine Fahrt ins Krankenhaus in der Stadt. Erik hatte ein gutes Viertel Selbstgebrannten getrunken und wollte seinen Führerschein nicht verlieren. Also hatte Ruben das Lastenmotorrad geholt, ihn zurück zu Jakobssons gefahren und dann in der Mädchenkammer ins Bett gebracht.
»Wir können ihn nicht so allein liegen lassen«, sagte Gerda. »Er darf nicht einschlafen. Das kann gefährlich sein. Das sagt Svea jedenfalls«, beeilte sie sich hinzuzufügen, damit niemand ihre Behauptung in Frage stellen konnte. Wenn die Gemeindeschwester Svea dieser Ansicht war, dann handelte es sich um eine grundsätzliche Wahrheit. Unumstößlich.
Angela strich sich den Haarschopf aus dem Gesicht.
»Ich kann bei ihm bleiben.« Sie hatte sich an Ruben vorbei durch die Tür geschlängelt, ohne ihn auch nur anzusehen. »Ich bleibe hier«, sagte sie. »Geht ihr, Erik braucht Ruhe. Ich passe auf ihn auf.«
Ruben kaufte seine Flundern bei dem Fischer, bei dem er sie immer kaufte. Das würde sein Beitrag zum Mittagessen werden. Berit hatte versprochen, zum Pilzragout ein Omelett zu machen. Das konnte leicht etwas fade werden. Er glaubte nicht, dass sie ein paar frisch geräucherte Flundern ablehnen würde. Vielleicht sollte man auch einen kleinen Blumenstrauß dabeihaben. Er hatte im Laufe der Jahre herausgefunden, dass Frauen so etwas mochten. Es mussten keine teuren gekauften Blumen sein. Man konnte genauso gut schnell am Graben anhalten und Natternkopf, Margeriten, Rotklee und Akelei pflücken und dann den Strauß mit dem Farnkraut einrahmen, das an der nördlichen Ecke des Hauses wuchs. Vielleicht war es schade, dass er fünfzig lange Jahre gebraucht hatte, um sich einigermaßen auf Frauen zu verstehen, aber lieber spät als nie. Frauen wollen überrascht werden.
Angela
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