Was vom Tode übrig bleibt
1. Zement
Es ist eine Sisyphusarbeit. Es ist, als müsste man mit einem winzigen Schraubenzieher im Winter eine zugefrorene Treppe frei schaben. Oder eine gründlich eingebrannte Pfanne mit einem Hölzchen säubern, wie es vom Eis am Stiel übrig bleibt. Und das Dümmste dabei ist: Ich weiß bereits jetzt, dass es Ärger geben wird. Ich bereue, dass ich diesen Job angenommen hab– ich bin manchmal so ein Depp, also wirklich!
Wir knien in unseren weißen Overalls in einem leeren Zimmer. Unsere Gesichter stecken in Atemschutzmasken. Wir haben elektrische Bohrmeißel, und wir bohren sie in den Estrich. Wir schaben ihn ab, in kleinen Streifen, einen, höchstens zwei Zentimeter breit. Den Meißel in den glasharten Zement zu drücken wird nach zehn Zentimetern schwer, nach höchstens 20 Zentimetern ist es unmöglich. Dann rutscht der Meißel nach oben weg, wir ziehen ihn zurück und fangen vorne wieder an.
Wir kratzen den Tod aus dem Boden.
Ich kenne nur den Nachnamen des Mannes, der hier starb. Er ist mit seiner Frau noch Anfang des Jahres in Thailand gewesen, sie ist dort ums Leben gekommen. Wie, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er drei Monate später fand, er hätte nun wohl ebenfalls lange genug gelebt, und Tabletten genommen hat. Was ich noch weiß, ist, dass er wohl nicht viele Freunde oder Verwandte hatte, die sich um ihn Sorgen gemacht haben. Man hat ihn nach vier bis sechs Wochen gefunden. Er lag auf dem Boden, zwischen dem Bett und dem Fenster. Vielleicht lag er anfangs auch noch im Bett, ich würde es beim Selbstmord ja wenigstens bequem haben wollen, vielleicht wurde er durch die Tabletten nicht ganz so bewusstlos, wie er gern gewesen wäre, aber gestorben ist er auf dem Boden. Deswegen sind wir hier. Es ist sein Blut, das wir aus dem Boden kratzen, und nicht nur sein Blut.
Der Zementstaub dringt mir in die Augen. Ich richte mich langsam auf und frage mich, wie Klaus das durchhält, denn er ist mit seinen 48 Jahren ein paar Jahre älter als ich. Er ist wie ich Feuerwehrmann und Rettungsassistent und extrem vielseitig. Am Anfang hat die Arbeit noch leichter ausgesehen. Da hat Klaus mit der Flex zwei großzügig bemessene Schlitze um die Leichenumrisse in den Boden gefräst, damit wir eine Ansatzkante für unsere Geräte haben, ungefähr zwei Meter lang und einen Meter breit, eine matratzengroße Fläche. Die Flex ist durch den Boden gegangen wie Butter. Aber jetzt… Mit verbissener Entschlossenheit treibt Klaus seinen Meißel in den Estrich, um wieder ein paar Quadratzentimeter loszuschlagen. Ich habe keine Ahnung, womit die Erbauer diesen Drecksboden angerührt haben. In manchen Städten stehen noch alte Flakbunker, die sie nach dem Krieg nicht abreißen konnten, weil die stärksten Sprengstoffe nichts vermocht hätten– hier in den Estrich haben sie vermutlich die Restbestände von diesem Bunkerzement gepresst; ich habe so etwas Granithartes noch nicht erlebt. Ich bin fast dankbar, wenn ich mal die Akkus in meinem Meißel wechseln kann. Ich richte mich auf, greife zum Besen, kehre die Splitter weg, was ich eigentlich nicht machen sollte, denn das Ergebnis ist ernüchternd: Es sieht aus, als hätten wir gerade erst angefangen.
Vielleicht ist das Ganze auch deshalb so tief drin, weil sie uns so spät gerufen haben.
Der Wohnungsbesitzer hat vorher offenbar schon selbst versucht, das Problem zu lösen, das heißt, irgendwelche Handwerker haben sich in seinem Auftrag bemüht. Wir jedenfalls haben nur den nackten Raum vorgefunden und den dunklen Fleck auf dem Boden vorm Fenster. Und die vielen kleinen Duftspender. Zwei blaue, kegelförmige aus dem Supermarkt, einer davon im Flur, einer im Wohnzimmer. Zwei weitere billige Plastikgehäuse stehen auf dem Fensterbrett im Schlafzimmer selbst, solche, die man gerne mal in die Gästetoilette stellt. Es wundert mich fast, dass sie nicht auch noch so ein kleines Bäumchen für den Autorückspiegel irgendwo hingehängt haben, Tannenduft oder Vanille. Die Mischung aus künstlichem Duftaroma und natürlicher Verwesung riecht furchtbar und hat zugleich etwas Rührendes. Als hätte jemand versucht, einen Waldbrand zu löschen, und zwar mit einem ganz, ganz kleinen Gießkännchen.
Sie haben das Zimmer ausgeräumt, ratzekahl. Sie haben den Teppichboden rausgerissen, die Klebstoffspuren sind noch auf dem Estrich darunter zu sehen, das war nicht mal so falsch. Dann haben sie geschrubbt, man sieht es an den Reinigern, die noch immer herumstehen. Sie haben die Fenster
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