Outlaw - Child, L: Outlaw - Nothing to Lose (12 Reacher)
1
Die Sonne war nur halb so heiß, wie er die Sonne schon erlebt hatte, aber sie war heiß genug, um ihn verwirrt und benommen zu machen: Er war sehr schwach. Er hatte seit zweiundsiebzig Stunden nichts mehr gegessen, seit achtundvierzig nichts mehr getrunken.
Nicht schwach. Er starb, das wusste er.
Vor seinem inneren Auge erschienen Bilder von wegdriftenden Gegenständen. Ein Ruderboot, das auf einem schnell dahinfließenden Fluss an einer verrotteten Festmachleine zerrte, bis sie brach. Seine Perspektive war die eines kleinen Jungen, der in dem Boot kauerte und hilflos die Flussufer anstarrte, während der Steg kleiner wurde.
Oder ein Luftschiff, das in einer sanften Brise am Ankermast schwoit, sich dann irgendwie losreißt und langsam höher und höher steigt, während der Junge in der Führergondel unter sich winzige, aufgeregt durcheinanderlaufende Gestalten sieht, die winken und dem Ausreißer sorgenvoll nachstarren.
Dann verblassten diese Fantasien, weil Worte jetzt wichtiger zu sein schienen als Bilder, was absurd war, weil er sich sonst nie für Worte interessiert hatte. Aber bevor er starb, wollte er wissen, welche Worte ihm gehörten. Welche waren auf ihn anwendbar? War er ein Mann oder ein Junge? Er war als beides angesprochen worden. Sei ein Mann, hatten einige gesagt. Andere hatten beteuert: Der Junge kann nichts dafür. Er war alt genug, um zu wählen und zu töten und zu sterben, was ihn zu einem Mann machte. Er war zu jung, um Alkohol trinken zu dürfen, nicht mal ein Bier, was ihn zu einem Jungen machte. War er tapfer oder ein Feigling? Er war schon beides genannt worden. Man hatte ihn als nicht ganz dicht, geistesgestört, geistig verwirrt, unausgeglichen, wahnhaft oder traumatisiert bezeichnet – lauter Dinge, die er verstand und akzeptierte – bis auf nicht ganz dicht. Sollte er dicht sein? Wie eine Tür? Vielleicht waren die Leute Türen. Vielleicht gingen Dinge durch sie hindurch. Vielleicht klapperten sie im Wind. Er dachte einen langen Augenblick über diese Frage nach, dann machte er frustriert eine abwehrende Handbewegung. Er brabbelte wie ein Teenager, der vom Kiffen nicht mehr loskommt.
Genau das und kein bisschen mehr war er vor anderthalb Jahren gewesen.
Er fiel auf die Knie. Der Sand war nur halb so heiß, wie er Sand schon erlebt hatte, aber heiß genug, um ihn etwas weniger frösteln zu lassen. Er sank nach vorn aufs Gesicht, erschöpft, endgültig verausgabt. Er wusste so sicher, wie er jemals etwas gewusst hatte, dass er die Augen nie mehr öffnen würde, wenn er sie jetzt schloss.
Aber er war sehr müde.
So entsetzlich müde.
Müder, als es ein Mann oder Junge jemals gewesen war.
Er schloss die Augen.
2
Die Linie zwischen Hope – Hoffnung – und Despair – Verzweiflung – war genau das: ein quer über die Straße verlaufender Strich, wo die Straßendecke einer Gemeinde aufhörte und die einer anderen begann. Das Straßenbauamt von Hope hatte eine dicke schwarze Asphaltschicht auftragen und glatt walzen lassen. Despair hatte weniger Geld. Das war offensichtlich. Seine Straßenbauer hatten unebenen Makadam mit Teer eingesprüht und mit grauem Rollsplit bestreut. Wo die beiden Beläge aneinanderstießen, befand sich ein zwei Finger breites Niemandsland: ein mit einer gummiartigen schwarzen Masse ausgefüllter Spalt. Eine Dehnungsfuge. Eine Grenze. Eine Linie. Jack Reacher überschritt sie, ohne sein Tempo zu verringern, und ging weiter. Er achtete gar nicht auf sie.
Aber später erinnerte er sich an sie. Später konnte er sie sich in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen.
Hope und Despair lagen beide in Colorado. Reacher befand sich in Colorado, weil er vor zwei Tagen in Kansas gewesen war, das an Colorado grenzte. Er war nach Südwesten unterwegs. Er hatte sich in Calais, Maine, aufgehalten und es sich in den Kopf gesetzt, den Kontinent diagonal zu durchqueren – bis nach San Diego in Kalifornien. Calais war der letzte größere Ort im Nordosten, San Diego der letzte größere Ort im Südwesten. Von einem Extrem zum anderen. Vom Atlantik zum Pazifik, von kühl und feucht zu heiß und trocken. Er nahm Busse, wo es welche gab, und fuhr per Anhalter, wo es keine gab. Nahm ihn niemand mit, ging er zu Fuß. In Hope war er auf dem Beifahrersitz eines flaschengrünen Mercury Grand Marquis eingetroffen, der von einem pensionierten Knopfverkäufer gefahren wurde. Jetzt verließ er das Gemeindegebiet zu Fuß, weil an diesem Morgen anscheinend niemand nach
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