Das Geheimnis der versteinerten Traeume
dir die grünen Zähne.«
Marks Blick wanderte zu Leo. »Ich geb dir ’nen guten Rat, Klugscheißer, weil du neu bist: Halt dich zurück! Tafelglotzer können wir hier nicht gebrauchen.« Er lief weiter den Flur entlang, um auch die anderen Zimmer zum »Antrittsappell!« zu rufen.
»Fängt ja gut an«, murmelte Leo.
Der Rotschopf machte eine wegwerfende Geste. »Den Flüpo darfst du nicht ernst nehmen. Hunde, die bellen, beißen nicht.«
»Wieso eigentlich Appell? Sind wir hier beim Militär?«
Benno schüttelte den Kopf. »Nee. Der Dabel lässt sich keine Gelegenheit entgehen, uns mit einer seiner berüchtigten Reden zuzutexten. Stell dir einfach vor, es wäre ’n Spiel. Wer am längsten wach bleibt, hat gewonnen. Komm, wir können später fertig auspacken. Das Ident findet im Südflügel statt.«
»Event.«
»Wie?«
»Ach, nichts. Geh vor. Ich folge dir unauffällig.«
»Erst müssen wir noch die Anstaltsklamotten anziehen.«
»Wie bitte?«
»Die Schuluniform. Markenjunkies sind auf Salem zum Abschuss freigegeben. Frei nach dem Motto: ›Wir sind alle eine große Gemeinschaft. Keiner ist besser als die anderen, weil er sich teure Markenklamotten leisten kann.‹«
Benno hatte etwas übertrieben. Die »Uniform« bestand aus
Bluejeans, lang- oder kurzärmeligen Hemden mit blau-weißen Längsstreifen und Schulwappen auf der Brust sowie dunkelblauen Pullovern. In der Freizeit war individuelle Kleidung erlaubt.
Nachdem sich die beiden umgezogen hatten, ließen sie sich vom Strom der Mitschüler ins Erdgeschoss tragen.
Zur offiziellen Begrüßung anlässlich des neuen Schuljahres hatte der Internatsleiter ins Refektorium geladen, den ehemaligen Speisesaal der Mönche. Es war ein Raum mit prächtigen Stuckverzierungen und Gemälden aus der Barockzeit. In langen Stuhlreihen nahmen die Schüler Platz.
Der Direktor stand auf einem Podest hinter einem Pult, das ihn bis zur Brust verdeckte. Eine Lautsprecheranlage verstärkte seine Stimme. Leo fand die Rede gar nicht so ermüdend. Sie baute auf das Motto der Traumakademie auf. Es lautete: »Gut geträumt ist nichts versäumt.« Davon ausgehend sprach er von der besonderen Rolle, die ein Traumschmied in der Gesellschaft einnehme. »Begabung heißt Verpflichtung«, war eines seiner Schlagworte, das im Verlauf der Ansprache mehrmals fiel. Die Regeln des Internats, die auf Eigenverantwortung und Respekt für die Mitschüler und Lehrer gründeten, nahmen ebenfalls einen breiten Raum ein. Sie waren aus den »sieben Salemer Gesetzen« abgeleitet, den Grundprinzipien für die Erziehung in der Traumakademie.
Benno gähnte. Sein Kopf nickte ständig nach vorne. Er war drauf und dran, das Spiel zu verlieren. Leos Blick wanderte durch den Saal. Eine Reihe vor ihm saß Orla Flaith. Das schwarzhaarige Mädchen sah zu Doktor Dabelstein auf, als verkünde er eine Heilsbotschaft. Oder wollte sie nur unnahbar wirken, damit die Jungen sie in Ruhe ließen?
Der Internatsleiter kam endlich zum Schluss. »Luzides Träumen
ist kein Verlust, wie manche meinen mögen«, sagte er mit erhobenem Finger. »Es macht das Träumen nicht weniger bunt und aufregend. Ganz im Gegenteil! Die meisten Träumer sind wie Kleinkinder, die mit ihren Händchen auf einer Klaviatur herumhämmern – zufällig und grauenvoll. Ist dagegen der Pianist, der nach jahrelangem Üben seine Zuhörer mit dem Konzertflügel bezaubert, ein Langweiler? Beileibe nicht! Genauso werdet ihr lernen, eure Träume so virtuos zu beherrschen wie ein Solist sein Musikinstrument. Homer sagte, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes. Ich sage euch: Der Traum ist der kleine Bruder des Lebens. Und für das Leben rüsten wir euch hier aus. Merkt euch also das Motto unserer Schule. ›Gut geträumt ist nichts versäumt.‹ Und jetzt nochmals herzlich willkommen. Ich wünsche euch ein gutes Jahr.«
Die Schüler applaudierten und trampelten mit den Füßen.
Bennos Kopf fuhr hoch. »Was? Schon vorbei?«
Leo grinste. »Ich hab gewonnen.«
Der Rotschopf gähnte. »Na ja, für dich war es das erste Mal. Da fand ich den Dabel auch noch imprägnierend.«
A m Montagmorgen erwachte Leo im Zustand fortgeschrittener Panik. Sein Laken war erschreckend nass. Du hast ins Bett gepinkelt!, dachte er. Er kniff die Augen zu. Seit dem Kindergarten war ihm das nicht mehr passiert. Die ganze Schule würde über den »Bettnässer von Salem« lachen. Megapeinlich!
Dann stieg ihm der Fischgeruch in die Nase. Leo schwante Schlimmes.
Seine Hand
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