Das Geheimnis der versteinerten Traeume
hier Geschöpfe,
die von ’nem Träumer erschaffen und in die Wachwelt hinübertranspondiert werden.«
»Du meinst, transportiert?«
»Genau. Du hast die Nixe buchstäblich im Schlaf gemacht. Cool, oder?«
Leo vermochte die Begeisterung seines Freundes nicht zu teilen. Bilibibb sah alles andere als glücklich aus. Vielleicht bekam ihr die Trockenheit nicht. Er schlug vor, sie für den Transport in nasse Decken einzuwickeln.
»Gute Idee«, sagte Okumus. »Das sollten wir aber erst im Bus machen, sonst ziehen wir eine Tropfenspur quer durch das Schloss.«
Mittlerweile hatten er und der Hausmeister eine Route ausklamüsert, auf der die Nixe hoffentlich unbemerkt zum Fahrzeug hinuntergeschafft werden konnte. Mark Laurel und die anderen Schüler waren nach einer nochmaligen Ermahnung des Vertrauenslehrers in ihre Betten zurückgekehrt. Abgesehen von Leo und Benno. Die mussten bei der Operation Seejungfer mithelfen. Während sie eilig die Sänfte aus dem Fundus der Theatergruppe herbeischafften, fuhr Okumus den kleinen Schulbus zu einer Durchfahrt hinter dem Langbau. Huber blieb bei Bilibibb und redete ihr gut zu. Wenig später trafen sich alle wieder im Zimmer der beiden Jungen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Leo.
»Kommt mir etwas apathisch vor«, brummte der Hausmeister. »Wir sollten uns beeilen.«
Leo lief ins Gemeinschaftsbad und kehrte mit einem klitschnassen Handtuch zurück, das er Bilibibb reichte. Sie rieb sich damit den Körper ein. Verschämt drehten sich ihre Retter um, bis sie sich bis zur Schwanzspitze eingefeuchtet hatte. Danach luden sie die Seejungfer in die Sänfte.
Sie aus dem dritten Stock ins Erdgeschoss hinunterzuschleppen, war eine schweißtreibende Schufterei. Anschließend ging es ein Stück über den Hof, dann nochmals durchs Schloss, hierauf nahmen die Sänftenträger einen Nebenausgang, ächzten an dem Münster vorbei, hinüber zum Langbau, tauchten keuchend in die Schatten der Durchfahrt ein und erreichten endlich völlig entkräftet ihr Ziel, einen silbern lackierten Kastenwagen mit einem Stern auf dem Kühlergrill. Zu diesem Zeitpunkt waren die vier männlichen Teilnehmer der Operation Seejungfer nasser als die Nixe.
Sobald diese auf eine der Sitzbänke verfrachtet und die Sänfte auf die Seite gestellt worden war, drückte Osmund Okumus aufs Gaspedal. Er fuhr, als sei sein Bus ein Silberpfeil und die Piste unter den Rädern der Nürburgring. Während der halsbrecherischen Fahrt zum Bodensee bangte Leo um das Leben der Traumgeborenen. Sie wurde immer schwächer. Als der Kleinbus durch die Straßen von Überlingen brauste, schloss sie die Augen.
»Ist sie tot?«, fragte Benno. Er saß auf der Bank hinter Bilibibb.
»Was weiß ich!«, zischte Leo. »Bin ich ein Nixenarzt?«
»Du musst dein Ohr auf ihre Brust legen.«
»Das hättest du wohl gern.«
»Soll ich mal …?«
»Fass sie nicht an!«
Okumus blickte in den Rückspiegel. »Fühl einfach ihren Puls, Leo.«
Das tat er dann auch. Beim Fahrstil des Vertrauenslehrers war es nicht leicht, überhaupt irgendetwas anderes als die Stöße der Bodenwellen zu spüren. »Ich glaube, ihr Herz schlägt noch!«
»Da vorne kommt das Bootshaus«, sagte Benno.
Der Bus hielt mit quietschenden Reifen vor einem Maschendrahtzaun.
Huber stieß die Tür auf, rutschte vom Beifahrersitz und eilte zum Tor. Sobald er es geöffnet hatte, rollte das Fahrzeug auf die Rampe, die gewöhnlich benutzt wurde, um Boote ins Wasser zu lassen. Okumus stellte den Wagen so ab, dass man von der Straße aus nicht sehen konnte, wie sie Bilibibb zu viert von der Sitzbank hievten.
Vorsichtig ließen sie die Nixe mit dem Schwanz voraus ins Seewasser gleiten, bis nur noch ihr Kopf herausschaute.
Leo kauerte sich neben sie. Die drei anderen Mitglieder der Operation blieben stehen und beobachteten ihn gespannt. »Komm, kleine Seejungfer!«, sagte er leise. »Wach auf! Du bist jetzt in deinem Element.«
Die Wellen spielten mit Bilibibbs Haar wie mit feinen Algen. Sonst bewegte sich nichts an ihr.
»Sie sieht aus wie eine Wasserleiche«, stellte Benno fachkundig fest.
»Kannst du nicht einmal deinen Mund halten«, knurrte Leo.
»Er hat recht, Benno. Das ist wirklich nicht lustig«, sagte der Hausmeister.
»War auch nicht tumoristisch gemeint«, verteidigte sich der Rotschopf.
Leo streichelte sanft die Wange des Wassermädchens. »Bitte stirb jetzt nicht!« Es war seine Traumgeborene, ein Geschöpf seiner Fantasie. Sie wie tot daliegen zu sehen, ging ihm an die
Weitere Kostenlose Bücher