Das Geheimnis der versteinerten Traeume
einsetzen.«
Okumus war Brillenträger, etwa Mitte vierzig und mittelgroß. Die breite Nase im vierschrötigen Gesicht musste ihm irgendwann jemand platt gehauen haben. Er bevorzugte offensichtlich die Nassrasur, obwohl er Grobmotoriker war, wie ein weißes Pflästerchen auf der Wange und ein zweites auf dem kantigen Kinn vermuten ließen. Sein Haar sah aus wie Asche. Wahrscheinlich ein Fan der Beatles, dachte Leo, denn die Frisur des Vertrauenslehrers war eine entschärfte Variante des berühmten »Pilzkopfes«.
Osmund »Okkultus« Okumus erklärte nach knapper Begrüßung, dass die Gruppe ihm folgen solle. Im gemächlichen Schritt, die Hände im Rücken verschränkt, lief er voraus. Die Schülerschar folgte ihm wie eine Schafherde dem Hirten.
Benno wich kurz von Leos Seite, um sich an Okumus heranzupirschen. Dabei fiel auf, dass der Rotschopf Plattfüße hatte. Offenbar machte er wahr, was er bereits angekündigt hatte, und bat darum, seinen neuen Freund bei ihm einzuquartieren. Mit zufriedenem Grinsen kehrte er zurück und erklärte: »Okkultus ist einverstanden, dass wir uns die Bude teilen.« Anschließend kommentierte er im Flüsterton weiter alles, was geschah, damit Leo über nichts im Ungewissen blieb.
Unterdessen hatte der Tross einen von zwei Treppenaufgängen flankierten Eingang erreicht. In der Empfangshalle dahinter erwartete die Ankömmlinge bereits Durs Huber, der etwa sechzigjährige Hausmeister des Internats. Er trug ein rot-grün kariertes Flanellhemd und darüber einen Blaumann, der seinen Schmerbauch gut zur Geltung brachte. Mit seinem buschigen Schnurrbart und der etwas altmodischen braunen Brille war er eher der gemütliche Typ. Jeden Schüler begrüßte er mit Handschlag und einem freundlichen Lächeln.
Danach ging es durch überwölbte Gänge auf die Zimmer. Jungen und Mädchen waren in getrennten Flügeln untergebracht. Manche teilten sich zu viert einen Raum, Leo durfte tatsächlich bei seinem neuen Freund einziehen.
Ihre »Bude«, wie der Rotschopf zu sagen pflegte, war streng symmetrisch eingerichtet: an der rechten Wand ein Bett, links ebenso, rechts ein Kleiderschrank und gegenüber auch. Genau auf der Mittelachse befanden sich ein rechteckiger Tisch mit einem Computer und dahinter, in einer oben abgerundeten Nische, das Fenster. Eher praktisch als gemütlich war das graublau
gesprenkelte Linoleum am Boden. Mehrere kleine Wandregale vervollständigten die Ausstattung. Zudem hingen an den weißen Wänden eine Reihe von Postern, die ausnahmslos blonde weibliche Stars der Musikszene in dürftiger Bekleidung zeigten.
Bennos und Leos Zimmer lag im dritten Stock des Westflügels. Dieser Bereich, in dem insgesamt vierundzwanzig Schüler wohnten, hatte einen eigenen »Flügelleiter«, der Sprecher und in organisatorischen Belangen auch Koordinator seiner Gruppe war. Er hieß Mark, war sechzehn, ziemlich groß, dünn wie eine Bohnenstange, lockenköpfig, hoch begabt, bester Schwimmer des Internats und größenwahnsinnig. Das jedenfalls behauptete Benno. Deshalb sprach er gewöhnlich vom »Flüpo«, die Abkürzung für Flügelposten. Den Amtsträger nannte er Mark Laurel, wobei Leo nicht herausbekam, ob sein Zimmergenosse damit auf den Schauspieler Stan Laurel – den unintelligenteren von Dick und Doof – anspielte, oder eher an den römischen Kaiser Mark Aurel dachte. Vielleicht spielte er in einem Anflug von Genialität ja auf beide an, denn Mark Schröder, so sein richtiger Name, nahm sich ziemlich wichtig. Benno meinte, sein Berufsziel sei Diktator.
Mark stellte sich dem neuen Mitschüler vor, indem er ohne anzuklopfen die Tür aufstieß und »Antrittsappell!« brüllte.
»Blödhammel! Du kennst die Regeln. Nächstes Mal klopfst du an oder ich frottier dich«, schrie Benno und warf eine Socke nach ihm. Aufgrund des hohen Luftwiderstands fiel sie auf halbem Wege zu Boden.
Der Flügelleiter W3 grinste Leo an. »Du bist also der schlafwandelnde Kirchenschänder. Siehst genauso unterbelichtet aus wie im Internet.« Sein Blick wechselte zu Benno. »Und unser Pumuckl hat sich gleich beim neuen Superträumer eingeschleimt, was?«
»War gar nicht nötig«, konterte Benno. »Als er dich Hasenhirn sah, hat er mich angebettelt, bei mir einziehen zu dürfen.«
»Pumuckl?«, wiederholte Leo. Am liebsten hätte er laut losgeprustet. Ihm gefiel der Vergleich mit dem rothaarigen Kobold.
»Sag dieses Wort nie wieder«, knurrte Benno. »Ich bin kein Klabautermann.«
»Stimmt, dazu fehlen
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