Das Geheimnis der versteinerten Traeume
den Grabschändungen im letzten Frühjahr müssen wir endlich die Samthandschuhe ausziehen und hart durchgreifen. Die jugendlichen Kriminellen glauben, sie dürfen sich alles erlauben.«
»Wäre Gott so streng wie Sie, käme jeder in die Hölle«, knirschte Emanouel.
»Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln, Herr Leonidas.«
Der zwinkerte. »Könnte etwas Fakelaki Sie gnädig stimmen?«
»Danke, ich habe schon gefrühstückt.«
»Eigentlich biete ich Ihnen an, Ihren Wetterhahn zu vergolden.«
»Wollen Sie mich jetzt auch noch bestechen?« Hoogenkamp war sichtlich entrüstet.
»Aber keineswegs«, sagte Leos Vater pikiert. »Ein Fakelaki ist nur ein ›Briefumschlägchen‹.«
»Ja, mit Schmiergeld drin. Korruption ist strafbar und verwerflich.«
»Ich bin Grieche. Wir sprechen vom ›Ölen‹. Geben nicht sogar Sie Ihren Schäfchen die Letzte Ölung?« Emanouel grinste schelmisch.
»Bei allem Respekt, Sie sind ein Schlitzohr, Herr Leonidas, und…«
»Danke. So etwas Nettes hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt.«
»… außerdem fehlt mir das Sendungsbewusstsein, orthodoxe Schlawiner in das Mysterium der evangelisch-lutherischen Krankensalbung einzuweihen.«
»Dann seien Sie bitte wenigstens so gnädig und ziehen Sie die Anzeige zurück, Herr Pastor.«
»Sie verwechseln Gnade mit Willkür. Wozu sollten sich die Rechtschaffenen anstrengen, wenn es ihnen nicht besser ergeht als den Übeltätern?«
»Sie könnten das Leben dieses Jungen zerstören.«
Der Priester musterte Leo aus seinen Gletschereisaugen und schüttelte den Kopf. »Nicht ich habe die Kirche geschändet. Das hat ganz allein er getan.«
Die Lokalpresse bauschte den Vorfall auf. Im Sommerloch gab es ohnehin nicht viel zu berichten, da kam Leos Eskapade gerade recht. Eine Woche lang las er über sich hanebüchene Artikel unter Schlagzeilen wie »Schlafwandler oder Vandale?«, »Jugendlicher Kirchenschänder hält die Justiz zum Narren«, »Leo L. beweist: Wer schläft, der sündigt doch« oder »Traumkarriere: Vom Schlafwandler zum Dieb«. Die Gazetten bedienten das Bedürfnis der breiten Masse nach Sensationen. Als habe Pastor Hoogenkamp den Schreiberlingen in die Feder diktiert, wurde ein »härteres Durchgreifen der Justizbehörden« gefordert. Ehe das Gericht sich des Falls annehmen konnte, war Leo in der Presse schon abgeurteilt.
Unterdessen taten seine Eltern ihr Bestes, um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen. Wenige Stunden nach dem unerfreulichen Besuch beim Pastor der Kreuzkirche konsultierten Emanouel und sein Sohn einen Rechtsanwalt. Der empfahl dem besorgten Vater, seinen Sprössling in ärztliche Behandlung zu geben. So könne er der Jugendrichterin glaubhaft machen, dass man »Leos Problem« in den Griff bekommen werde. Er wolle alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, ihm den Prozess zu ersparen.
Drei Tage später – die Lokalseiten der Tagespresse hatten sich inzwischen auf den »Schlafwandlerfall« eingeschossen – saßen der Junge und seine Mutter im Sprechzimmer eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie. Die Praxis von Doktor Marius Hackmann lag in der Mönckebergstraße unweit der Binnenalster. Er war ein sportlich anmutender Endvierziger mit grau meliertem Haar, Schildpattbrille und einschläfernder Stimme.
»Sind Sie nicht die Gewinnerin des diesjährigen Wattenläuferpreises?« , fragte der Nervenarzt Severina nach eingehender Untersuchung ihres Sohnes. Er hatte sich für den Privatpatienten
viel Zeit genommen, während Leos Mutter ungefähr zwanzig Telefonate führte.
Sie bejahte verlegen und richtete dabei ihre Kurzhaarfrisur. »Dann liegt die Umwelt Ihnen auch am Herzen, Doktor Hackmann ?«
»Ich spende regelmäßig.«
»Vielleicht kann ich Sie für mein neues Sorgenkind begeistern: den Nordsee-Schnäpel.«
Der Arzt lächelte. »Und ich dachte, Sie seien wegen Leo hergekommen.«
Severina blinzelte. Dann lachte sie gekünstelt. »Ja, natürlich! Was fehlt denn dem Jungen?«
»Ich konnte mir bis jetzt nur ein erstes Bild von ihm machen. Der Fall ist hochinteressant. Wussten Sie, dass Ihr Sohn sich für schizophren hält?«
»Nein«, staunte sie. »Woher sollte ich das wissen?«
»Sie sind seine Mutter.«
»Das ist unmöglich, so intelligent, wie Leo ist.«
»Die landläufig als Schizophrenie bezeichneten Psychosen gehen nicht unbedingt mit eingeschränkter intellektueller Leistungsfähigkeit einher. Selbst Nobelpreisträger leiden unter Dementia praecox.«
Severina erschrak.
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