Das Geheimnis der versteinerten Traeume
»Dann könnte er tatsächlich daran erkrankt sein. Leo ist nämlich ein außerordentlich begabter Junge.«
»Ohne Zweifel«, pflichtete ihr Doktor Hackmann mit gnädigem Lächeln bei. »Bis zu einer endgültigen Diagnose sollten wir noch ein paar Untersuchungen durchführen und die Testergebnisse für den organischen Befund abwarten. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass wir es hier mit einer Form der Schizophrenie zu tun haben. Wahrscheinlicher erscheint mir indes
eine weniger schwere psychotische Störung, die man oft ambulant behandeln kann.«
»Dann muss ich nicht in die Klapsmühle?«, fragte Leo. Die Einweisung in eine Nervenheilanstalt war seine größte Sorge.
»Vorläufig würde ich davon absehen«, antwortete der Arzt träge. Danach erklärte er Severina die weitere Vorgehensweise. Unter anderem sollte Leo in den nächsten Tagen sein Gehirn einscannen und sich in einem Schlaflabor untersuchen lassen. Mit einem wohldosierten Händedruck verabschiedete er Mutter und Sohn.
»Und? Was hältst du von Doktor Hackmann?«, fragte Severina im Fahrstuhl.
»Dem kann man beim Reden ein Zungenpiercing schießen.«
»Ich meinte eigentlich, ob du ihm vertraust.«
Leo zuckte mit den Schultern. Immerhin taten seine Eltern jetzt irgendetwas für ihn. Ob es das Richtige war, musste sich erst noch zeigen.
Der betagte Lift kam ruckelnd zum Stehen, die Türen öffneten sich, ein Mann lächelte sie an. Er war ungefähr Mitte fünfzig, hatte auffällig behaarte Hände und sah ansonsten aus, wie sich Leo einen zerstreuten Professor vorstellte: verschmierte Nickelbrille, wirre Frisur, ausgebeulte dunkelblaue Breitkordhose, dazu unpassendes, kariertes Sakko in gedecktem Braun-Beige-Rot, vermutlich superbequeme Gesundheitsschuhe, die sich auch zum Austreten mittelschwerer Waldbrände eigneten.
»Frau Severina Leonidas?«, sprach er Leos Mutter an, wobei er das R auffallend rollte.
»Ja?«, erwiderte sie argwöhnisch.
»Ihr werter Gemahl sagte mir, wenn ich mich spute, erwische ich Sie hier vielleicht noch.« Er machte einen Schritt zur Seite, damit die beiden aus dem Fahrstuhl treten konnten. Während
sie das taten, griff er in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie Severina. »Ich bin Doktor Herger Dabelstein …«
»Ein Doktor der Psychologie und Internatsdirektor?«, las sie überrascht, was auf der Karte stand.
»Ganz genau.« Er nickte eifrig und schüttelte Severina die Hand. Mit dem Kopf deutete er auf den Jungen. »Das ist Ihr Sohn?«
»Ich heiße Leo«, sagte der unwirsch. Ihm gefiel es überhaupt nicht, wenn jemand wie von einem Taubstummen über ihn redete.
Dabelstein gab ihm ebenfalls die Hand. Sein rundliches Gesicht lächelte. »Hocherfreut, Leo. Die letzte Nacht konnte ich kaum schlafen, so aufgeregt war ich, dich endlich kennenzulernen. Was immer der Kollege in diesem Haus dir erzählt hat, ich gehe stark davon aus, dass du nicht krank bist. Das kommt dir jetzt vielleicht komisch vor …«
»In der Tat«, unterbrach ihn Severina misstrauisch. »Was befähigt Sie zu dieser Diagnose. Etwa das gründliche Studium der Tagespresse?«
»Die verbalen Blähungen der Journaille waren nur der Auslöser für mein Interesse. Ich durchforste seit geraumer Zeit das Internet nach den typischen Anzeichen, an denen man sie erkennt. Sogar die haarsträubendsten Schmierereien der Boulevardpresse können sie nicht gänzlich übertünchen. Das kurze Gespräch mit Ihrem Mann hat mich in meiner Vermutung bestärkt, dass Leo einer ist.«
»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie reden.« Das verwirrende Gerede des Psychologen beschwor erkennbar Severinas Unmut herauf.
Sichtlich ergriffen deutete Dabelstein auf den Jungen. »Frau
Leonidas, ich bin überzeugt, dass Leo eine seltene Begabung hat. Deswegen bin ich hier. Ich möchte Ihnen anbieten, sein Talent in einer besonderen Einrichtung zu fördern.«
Leos Mutter schien um einige Zentimeter zu wachsen. Ihre Miene hellte sich auf. »Eine seltene Begabung, sagen Sie? Endlich bemerkt das mal einer, ohne dass ich ihn mit der Nase draufstoßen muss. Was sehen Sie denn in Leo?«
Der Doktor strahlte. »Einen Traumschmied!«
Das Wiener Café Wirth lag über einem Juweliergeschäft in der Spitalerstraße 28, nur wenige Gehminuten von der Praxis des Nervenarztes entfernt. Leos Vater führte die Familie gelegentlich dorthin, da ihm der Kaiserschmarrn mit den Apfel-Zimt-Spalten so gut schmeckte. Severina meinte, in Wahrheit ziehe
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