Das Geheimnis Des Amuletts
Schule, wie ein Schleier aus Herbstnebel. Eine gedämpfte Stimmung herrschte, als würden alle auf etwas Unbekanntes warten und insgeheim ein Unglück befürchten. Ich war selbst erst seit einem Jahr in Wyldcliffe und hatte die Schule mit ihren altmodischen Regeln und Gesetzen immer als bedrückend empfunden – das hier war jedoch anders. Es lag Angst in der Luft. Während die Schülerinnen durch die schwach beleuchteten Gänge gingen oder sich in den Klassenräumen mit den hohen Decken trafen, gab es nur ein einziges Thema, über das getuschelt und geredet wurde: Wie würde es mit Wyldcliffe weitergehen? Die privilegierte Welt war von der schäbigen Realität berührt worden und schien plötzlich nicht mehr der sichere Hafen für die Töchter der Reichen und Mächtigen zu sein. Tod und Skandale und Angst waren in das schlummernde Gemäuer eingezogen.
Die Lehrerinnen – oder Mistresses – wirkten ebenfalls angespannt. Nicht wenige Mädchen waren nach der Sommerpause gar nicht mehr zurückgekehrt. India Hoxton zum Beispiel hatte ihre Drohung wahrgemacht und war nach Chalfont Manor bei London gewechselt. Andere waren ihrem Beispiel gefolgt. Ich würde India nicht vermissen, da sie mich vom ersten Moment an, als ich in Wyldcliffe angekommen war, abgelehnt hatte, aber ihre versnobte Freundin Celeste van Pallandt wirkte ohne sie verloren und unruhig. Arme Celeste, wie schwer fiel es ihr, nicht zu hassen. Ihre Wut nagte an ihr wie eine Krankheit, verkrüppelte das Mädchen, das sie hätte sein können …
Celeste weigerte sich natürlich, irgendwelche Sympathiebekundungen von mir gelten zu lassen. In meinem ersten Term hatte sie versucht, mich von der Schule zu vertreiben, kaum dass ich als Stipendiatin angekommen war, aber das hatte ich ihr inzwischen vergeben. Ich wusste, dass ihr Groll mir gegenüber seltsamerweise damit zusammenhing, dass sie unter dem Tod ihrer Cousine Laura litt. Das Mädchen war im See unten bei der Ruine der uralten Kapelle »ertrunken«. Jedes Mal, wenn ich Celeste sah, dachte ich an die arme Laura und ihr schreckliches und geheimes Schicksal: Sie war von den Schwestern der Dunkelheit ermordet worden, deren Hexenzirkel im einsamen Tal von Wyldcliffe seinen Ursprung hatte.
Laura war tot, aber ihre Seele war gefangen, steckte zwischen Tod und ewiger Dunkelheit fest. Die arme Laura war eine Art Gebundene Seele, die wie ein Zombie von der Anführerin des Hexenzirkels kontrolliert wurde – von Celia Hartle, der Obersten Mistress von Wyldcliffe, die zu ihren Lebzeiten Helens Mutter gewesen war und nun Priesterin des Ewigen Königs der Unbesiegten und unsere Todfeindin. Obwohl ihr Geist an den großen Stein auf dem Ridge gebunden war, brütete sie weiter über unsere Schicksale und wartete auf eine Chance zur Rache …
Während wir im Laufe des neuen Terms mehr und mehr von der vertrauten Routine eingeholt wurden, breitete sich Unsicherheit in mir aus. Was hatte Helen dagegen, dass wir ihr in ihrem Kampf gegen ihre Mutter halfen? Welche Geheimnisse verbarg sie vor ihren Schwestern?
Fünf
Aus dem Tagebuch von Helen Black
19. September
Gestern habe ich wieder den geheimen Weg benutzt, um meine gefangene Mutter aufzusuchen. Mit ihren Worten hat sie ein Geflecht von Versprechungen in meinem Geist gewoben, wie ein glitzerndes Netz; jetzt, wo der Kontakt hergestellt ist, kann ich nicht mehr zurück.
Früher war ich so wütend auf sie gewesen. Ich habe versucht sie anzugreifen, bevor sie mich wieder verletzen konnte. Ich habe sogar versucht sie zu hassen. Aber ich war nie besonders gut im Hassen. Abgesehen davon ist Hass nichts weiter als umgeschlagene Liebe. Sag mir, Wanderer, war es falsch von mir, dass ich mich unserem gefallenen Feind genähert habe? Oder war es eine Tat der Hoffnung und des Glaubens?
Ich muss es herausfinden. Es schmerzt, in ihrer Nähe zu sein, aber ich kann jetzt nicht aufhören. Ich muss wissen, ob sie das, was sie sagt, auch wirklich so meint. Ich muss die Wahrheit wissen.
Jeden Nachmittag nach dem Unterricht machte ich mich auf den Weg zum Kamm, verzweifelt darauf hoffend, dass ich wieder mit dem Geist meiner Mutter sprechen konnte. Ich musste herausfinden, ob ihre Reue echt war. Sarah und Evie durften absolut keinen Verdacht schöpfen. Ich hatte versucht, sie mit Warnungen fernzuhalten, damit ich es allein tun konnte. Ich wollte nicht, dass sie wieder verletzt wurden oder in Gefahr gerieten, aber die Vorstellung ließ mich nicht mehr los, dass ich meine Mutter
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