Das Geheimnis Des Kalligraphen
erinnere sich genau, dass Hamid Farsi unmittelbar nach Erhalt des dritten Briefes verrückt geworden war, zumindest schien es so.
Die Psychiatrie weigerte sich, einen Kommentar abzugeben. Die Flucht eines Verrückten habe in Damaskus noch niemanden interessiert. Nur, weil er jetzt Hamid Farsi heiße und seine Todfeinde, allen voran der Abbani-Clan, hinter allem eine raffiniert geplante Flucht sähen.
Ein Rundfunkjournalist deckte zwanzig Jahre später in einer sensationellen Reportage den Skandal auf. Hamid sei damals geflüchtet, und der langjährige Direktor der Psychiatrie habe seine Flucht vertuscht.
Hamid habe keine Chance gehabt, aus der Zitadelle zu flüchten, »und schon gar keine Lust, lebenslänglich mit Verbrechern eingesperrt zu sein, also spielte er in Absprache mit seinen Freunden in Aleppo verrückt, und es hat sich offensichtlich gelohnt. Hier ist nur ein kleiner Gartenzaun zu überwinden. Mit ein paar Geschenken für den Direktor wird der Zaun noch niedriger«, sagte er und interviewte Passanten, die den Zuhörern versicherten, jeder, selbst der Unsportlichste, könne den unbewachten Zaun aus Maschendraht überwinden. Die Sendung löste in Damaskus große Heiterkeit aus. Viele Witze über Austausch von Politikern und Verrückten entstanden in jener Zeit.
Der Reporter aber hatte nicht das Heitere im Sinn gehabt, sondern eine Abrechnung mit dem seit vierzig Jahren amtierenden Direktor der Psychiatrie, den er für korrupt hielt. Seine Sendung endete mit der Feststellung: der Anstaltsleiter habe gelogen, als er behauptete, Hamid Farsi sei gestorben und auf dem Anstaltsfriedhof begraben worden. Auch die Schwester des Kalligraphen erklärte vor dem Mikrophon empört, sie hätte es erfahren, wenn ihr geliebter Bruder gestorben wäre. Sie fügte aufgebracht hinzu: »Die Leitung der Psychiatrie soll doch, wenn sie kann, mir und der Presse das Grab meines Bruders Hamid Farsi zeigen.«
Doktor Salam, Direktor der Psychiatrie, hatte trotz des Skandals keine Sorge um seine Stelle, sein jüngster Bruder war ein General der Luftwaffe. Er hüllte sich in Schweigen. Nicht aber der reiche Autohausbesitzer Hassan Barak. Er gab dem Journalisten ein Interview, das in der Hauptstadt für Wirbel sorgte.
Hassan Barak sprach ungeschminkt vom Niedergang der arabischen Kultur. »Hamid Farsi war ein Prophet. Da seht ihr es«, rief er heiser vor Aufregung, »das ist das Ende eines Propheten in Damaskus: ein Gerücht. Wir sind ein von Gott verdammtes Volk. Wir bekriegen und verfolgen unsere Propheten. Sie werden vertrieben, gekreuzigt, erschossen oder in Irrenhäuser gesteckt, während andere zivilisierte Länder sie auf Händen tragen. Hamid Farsi lebt bis heute in Istanbul«, sprach er beschwörend. Nur langsam beruhigte sich der Mann, der als kleiner Laufbursche vor mehr als dreißig Jahren Hamid Farsis Rat befolgt hatte, der Kalligraphie den Rücken zu kehren, und zum bekanntesten und reichsten Automechaniker von Damaskus geworden war. Er habe, erzählte er den staunenden Zuhörern weiter, bei einem Urlaub in Istanbul durch Zufall eine Kalligraphie als Werk des Meisters Hamid Farsi erkannt und viel Geld für das Unikat bezahlt. Der Galerist hatte den Kalligraphen haargenau beschrieben. Aber als er, Hassan Barak, darum bat, seinen alten Meister zu sehen, winkte der erfahrene Galerist ab. Der Meister, sagte er und lachte dabei, als hätte er einen Witz gemacht, wolle keinen Araber sehen oder sprechen.
Eine Woche später berichtete der Journalist, der Autohausbesitzer habe ihm wie auch anderen Reportern und Besuchern das Gemäldegezeigt. Professor Bagdadi, ein Experte, habe bestätigt, dass die Kalligraphie mit Sicherheit aus der Feder des Unterzeichners stamme. Er konnte auch die Unterschrift, die die Form einer Damaszener Rose hatte, entziffern: Hamid Farsi.
Dreihundertsechzig Kilometer von Damaskus entfernt war im April 1957 ein junges Ehepaar in ein kleines Haus in der Arba’ingasse eingezogen.
Die Gasse lag im alten christlichen Viertel von Aleppo, der syrischen Metropole im Norden. Bald eröffnete der Mann ein kleines Atelier für Kalligraphie, schräg gegenüber der katholischen assyrischen Kirche. Er hieß Samir, sein Nachname al Haurani interessierte kaum jemanden. Er fiel allen durch seine Freundlichkeit und durch seine abstehenden Ohren auf. Er war nicht übermäßig begabt, aber man sah ihm die Freude an, mit der er an die Arbeit ging.
Moscheen und islamische Druckereien gaben ihm selten Aufträge, aber
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