Das Geheimnis Des Kalligraphen
sogar mehrfach lebenslänglich bekommen hatten.
Hier war die Hölle auf Erden zwischen Ratten und Killern, denen die Feuchtigkeit der Jahre das Hirn zerfressen hatte. Die Wände schwitzten vor Nässe, da die Zitadelle an einen kleinen Fluss grenzte. Als die Franzosen noch das Land besetzt hielten, befand ein Veterinär der französischen Armee, dass das Erdgeschoss als Stall für Pferde und Maultiere nicht geeignet sei.
All diese Misere entsetzte Hamid Farsi nicht mehr als die Tatsache, dass ihm sein schlechter Ruf vorausgeeilt war. Er erntete nur Verachtung, und keiner, aber wirklich keiner der vierzehn Insassen in dieser großen dunklen Zelle wollte ihm seine Version der Geschichte abnehmen.
»Aber ich habe ihn umgebracht. Mit zwölf Stichen meines Messers«, versuchte er sich aufzuwerten. Er hatte die Stiche nicht gezählt, aber der Rechtsanwalt der Familie Abbani hatte die Zahl zwölf betont.
»Du bist nicht nur ein gehörnter Idiot«, sagte Faris, viermal lebenslänglich, »du hast den Falschen getötet. Nassri hat deine Frau nur bestiegen, aber Direktor al Azm hat sie nun in seinen Harem aufgenommen. Oder denkst du wirklich, dass er dich wegen deiner Scheißschrift oben in die Villa gesetzt hat?«
Hamid schrie und weinte vor Wut, aber das zählte bei den Lebenslänglichen nur als Schuldbekenntnis.
Zwei Monate später musste der neue Gefängnisdirektor, alarmiert von den Wärtern, Hamid Farsi in die psychiatrische Anstalt al Asfurije nördlich von Damaskus einweisen lassen.
Er warf einen letzten Blick auf den Kalligraphen, dessen Körper mit blauen Flecken und Kot bedeckt war. »Ich bin ein Prophet der Schrift und Urenkel Ibn Muqlas. Warum quälen mich diese Verbrecher jede Nacht?«, rief er. Die anderen Gefangenen brüllten vor Lachen. »Gebt mir doch ein Stück Papier und ich zeige euch, wie die Schrift aus meinen Fingern fließt. Wer kann das wie ich?«, wimmerte er.
»Jeden Tag dasselbe Theater, bis er die Fresse poliert kriegt, dann heult er wie ein Weib«, erklärte ein hünenhafter Gefangener mit vernarbtem Gesicht und tätowierter Brust.
»Spritzt ihn mit Wasser ab und wascht ihn zweimal mit Seife und Spiritus, bevor die Männer der Psychiatrie kommen. Ich will nicht, dass sie schlecht von uns reden«, sagte der Direktor angeekelt.
Hamid kam für mehrere Monate in eine Klinik und von dort, nachdem er sich etwas erholt hatte, in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Dort verlor sich seine Spur. Doch sein Name lebte.
Den gesamten Besitz Hamids erbte seine Schwester Siham. Das Haus verkaufte sie Jahre später an einen General. Doch auch nach zehn Jahren nannten die Nachbarn das Anwesen »das Haus des verrückten Kalligraphen«. Das war auch ein Grund für den General, das Haus wieder zu verkaufen. Der finnische Botschafter kaufte es, es machte ihm nichts aus, im schönen Haus des Verrückten zu leben. Arabisch verstand er sowieso nicht.
Das Atelier ging für sündhaft viel Geld an den ältesten Mitarbeiter Samad. Geschäftstüchtig wie dieser war, behielt er den Namen Atelier Hamid Farsi auf dem Schild über der Tür, dem Stempel und allen offiziellen Papieren. Er unterschrieb seine Arbeiten so klein, dass man es nur schwer entziffern konnte. Der Ruf des Kalligraphen Hamid Farsi war bis Marokko und Persien gedrungen, und von dort bekam das Atelier immer wieder Aufträge.
Samad war ein guter Techniker, aber niemals erreichte er die Eleganz, den Esprit und die Perfektion seines Meisters. Experten erkannten das gleich, aber für die Mehrheit reicher Bürger, Geschäftsleute und Firmenbesitzer war eine Kalligraphie besonders wertvoll, wenn sie aus dem Atelier Farsi kam. Samad war ein bescheidener, aber witziger Mann, und wenn man ihn fragte, warum die Kalligraphien nichtso gut seien wie die seines Meisters, lächelte er und antwortete: »Damit ich nicht so ende wie er.«
Doch wie endete Hamid Farsi? Das ist eine Geschichte mit unendlich vielen Ausgängen. Ein Gerücht kam kurz nach seiner Einlieferung in die Psychiatrie in Umlauf und hielt sich hartnäckig: Hamid sei mit der Hilfe seiner Anhänger aus der Anstalt geflüchtet und lebe nun als anerkannter Kalligraph in Istanbul.
Dafür gab es Zeugen. Ein ehemaliger Wärter in der Zitadelle berichtete zehn Jahre später einer Zeitung, Hamid habe damals als Häftling drei Briefe aus Aleppo erhalten, die man selbstverständlich vorher kontrolliert habe. Es seien harmlose Briefe gewesen mit breitem Ornament und schöner Schrift geschrieben. Er
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