Das Geheimnis Des Kalligraphen
Antoine Comte de Rivarol 1784 frech ausrufen: ›Ce qui n’est pas clair n’est pas français‹ , was nicht klar ist, ist kein Französisch.
Was können wir dagegenhalten? Ein Wort, das nicht über fünfzig Synonyme hat, ist kein Arabisch?«
Die Männer im Saal lachten verhalten.
»Und in der Tat, Französisch ist präzise«, fuhr der Minister fort. »Jedes Wort hat eine Bedeutung, kann jedoch auch dichterisch etwas variieren. Aber die Sprache wird immer wieder erneuert, und damit wird Platz für moderne, lebendige und für die Kultur lebensnotwendige Wörter geschaffen. Nur dieser permanente Verjüngungsprozess treibt eine Sprache voran und ermöglicht ihr, mit der Zivilisation Schritt zu halten, ja sie auch mitzugestalten.
Unsere Sprache ist wunderschön, aber diffus, was den Dichtern großen Spielraum schenkt, aber Verwirrung bei Philosophen und Wissenschaftlern verursacht. Sie wissen besser als ich, dass wir für den Löwen über dreihundert, nach Ibn Faris sogar fünfhundert Synonyme haben, zweihundert für den Bart und eine enorme Zahl für Wein, Kamel und Schwert.«
»Aber all diese Wörter sind bereits in Wörterbüchern festgehalten. Sollen wir sie wegwerfen?«, meldete sich ein junger Sprachwissenschaftler. Der Minister lächelte, als hätte er gewusst, was nun kommen würde. Der siebzigjährige Sati’ al Husri hob die Hand: »Junger Mann«, sagte er väterlich, »nicht wegwerfen, sondern ins Museum stellen und neue frische Wörterbücher produzieren. Die Europäer haben Mut bewiesen und begruben die Leichen ihrer Wörter, die kein Mensch mehr gebraucht und die nur noch Verwirrung stiften. Bei uns spazieren die Leichen herum. Die Wörterbücher sollten das Haus der lebendigen und nicht der Friedhof der toten Wörter sein. Wer braucht mehr als fünf Wörter für den Löwen? Ich bestimmt nicht. Sie etwa? Zwei, drei für Weib und Wein reichen auch vollkommen. Alles andere wird die Sprache verunreinigen ... «
»Aber der Koran, was wollen Sie mit den Synonymen anstellen, die dort vorkommen?«, unterbrach ihn ein Mann mit grauen Haarenund gepflegtem Schnurrbart. Er war Autor mehrerer Bücher zur Pädagogik.
»Jedes Wort, das im Koran vorkommt, wird in die neuen Wörterbücher aufgenommen. Daran rüttelt kein Mensch. Aber der Koran ist zu erhaben, als dass er sich mit Synonymen vom Löwen und anderem Getier füllt«, sagte der alte Husri ungeduldig.
»Und der Koran sagt an keiner Stelle, wir sollen unsere Sprache mit so viel Ballast lähmen«, fuhr der Minister fort, »nur ein Beispiel von vielen. Man schätzt die Wörter der modernen Physik auf etwa sechzigtausend, die der Chemie auf hunderttausend, die der Medizin auf zweihunderttausend Wörter. In der Zoologie zählt man über eine Million Tierarten und in der Botanik kennt man über dreihundertfünfzigtausend Pflanzenarten. Ich wäre froh, wenn wir sie alle vom Lateinischen übernehmen und auf Arabisch buchstabieren könnten, aber stellen Sie sich die Katastrophe vor, wenn wir alle diese Wörter mit Synonymen aufnehmen müssten. Deshalb sollen wir den Mut haben, unsere Sprache zu entlasten und all diese neuen Begriffe, die uns den Eintritt in die Zivilisation ermöglichen, aufzunehmen. Dann werden die Wörterbücher zwar umfangreich, aber voller Leben sein. Deshalb bat ich meinen verehrten Lehrer Sati’ al Husri, einer Kommission vorzustehen, die diese heikle Aufgabe in den nächsten zehn Jahren in Angriff nehmen soll.« Er wandte sich dem alten Mann zu: »Ich danke Ihnen für Ihren Mut.«
Husri nickte zufrieden. »In fünf Jahren übergebe ich Ihnen das neue Wörterbuch meiner Kommission«, sagte er stolz.
Sati’ al Husri sollte im Sommer 1968, fünfzehn Jahre nach dieser Sitzung, auf dem Sterbebett an diesen Augenblick zurückdenken. Es war eine seiner vielen Angebereien, die das Leben bestrafte. Er galt damals in den fünfziger und sechziger Jahren als geistiger Vater aller arabischen Nationalisten. Deshalb kamen seine Schüler, als sie von seiner schweren Erkrankung hörten, aus allen arabischen Ländern, um Abschied von ihrem Lehrer und Idol zu nehmen. Es waren zwölf gestandene Männer, deren Gefängnisjahre zusammengezählt mehr als ein Jahrhundert ausmachten, aber sie waren alle inzwischen in ihren Ländern an der Macht – meist durch Putsche, aber das störte den altenHusri nicht. Unter den Zwölf waren drei Ministerpräsidenten, zwei Parteivorsitzende, zwei Verteidigungsminister, drei Geheimdienstchefs und zwei Chefredakteure von
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