Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
Er ernährt sich von Paragrafen und pflanzt sich per amtlicher Verfügung fort. Er ist unsterblich, weil er sich ausreichend versichert hat. In seiner Arbeitszeit ist er als Erfinder tätig. Er denkt sich Formulierungen aus, die ein normaler Mensch nicht verarbeiten kann. Er tut dies aus sozialen Gründen. Er versorgt die anderen Mitglieder seiner Sippe mit Arbeit, als da sind: Rechtsanwälte, Steuerberater oder Verwaltungsfachangestellte. Sie verfügen über die Fähigkeit, die kruden Formulierungen der Kaste der Paragrafenschweißer zu entschlüsseln. All diese Berufe bilden einen eigenen Kosmos, dessen einziger Zugang zur normalen Welt über den Weg der Gebührennote oder des Beraterhonorars führt. Wie entsteht so etwas?
Evolution. Der Jurist hat sich im Grunde genauso entwickelt wie der Gepard oder das Warzenschwein. Sein Lebensraum ist nicht die Serengeti, er bewegt sich geschmeidig wie ein Puma durch Flure oder Großraumbüros. Warum sind hier keine Kamerateams, die uns das Biotop zwischen Teeküche und Kopierer zeigen, Staatsdiener in freier Wildbahn? Tiefsee und Savanne sind uns teure Dokumentationen wert, aber auch das Treiben in den uns nahe gelegenen Lebensräumen enthält Rätselhaftes, Unvorstellbares und Furchterregendes.
Ich möchte auch einmal einen Paragrafen formulieren. Mein Vorschlag lautet: „Treppen mit einer Absturzhöhe von 90 bis 110 Metern dürfen nicht auf dem Luftweg verlassen werden, es sei denn, der Flugwillige gehört zur Familie der Meisen aus der Ordnung der Sperlingsvögel, Unterordnung Singvögel. Dann gilt die Luftverkehrsordnung vom 16. September 1963.“
Vielleicht sind auch die beiden Zeugen Jehovas, die mich regelmäßig bekehren wollten, irgendwo von einer Treppe gefallen. Und nirgendwo war ein Gott, der ihren Sturz gedämpft hätte! Verständlich. Der Schöpfer muss sich um Trilliarden von Planeten in wahrscheinlich nicht nur einem, sondern mehreren Universen kümmern. Es ist mir völlig schleierhaft, wie man behaupten kann, wir wären mehr als ein Trillionstel eines Staubkorns in Gottes Plan. Das muss die kindliche Naivität unserer beschränkten Fantasie sein, infantile Selbsterhöhung, die uns das eigene Ich für das Zentrum des Universums halten lässt.
Vielleicht haben die beiden Missionarinnen auch einfach aufgegeben. Ich weiß es nicht. Ich bin nur froh, dass sie nun darauf verzichten, meinen agnostischen Verstand als gottverlassen zu beschimpfen. Ich kann auf religiöse Rekrutierung verzichten! Irgendwann werden Islamisten bei mir schellen und mich lässig mit der Kalaschnikow fuchtelnd fragen, ob ich eventuell bereit wäre, mein bisheriges Leben zu beenden, um ein gottesfürchtiges zweites zu beginnen, das mich am Ende ins Paradies führen würde. Ich bezweifle, dass diese Leute eine abschlägige Bescheidung ihres Gesuches so klaglos hinnehmen würden wie die Damen mit dem Wachtturm.
Ich bin am Paradies nicht interessiert. Ich bezweifle sogar seine Existenz! Wie sollte so ein Paradies aussehen? Ein Paradies wäre nur dann ein Paradies, wenn man dort auf Vorschriften für Treppengeländer verzichten würde! Im Paradies könnten also auch Treppen über 14 Meter Absturzhöhe mit Geländern gesichert werden, die nur 60 Zentimeter hoch sind. Mit anderen Worten: Das Paradies wäre gefährlich!
Ich möchte nicht über Bauvorschriften nachdenken, vor allem nicht morgens, wenn der Tag noch gar nicht richtig begonnen hat. Ich will nicht schon vor dem Frühstück an Missionare diverser Weltreligionen denken. Ich bin doch noch gar nicht richtig wach! Ich liege in meiner dampfenden Koje und warte auf mein eigenes Aufwachen. Dann werde ich vergessen, worüber ich heute schon nachgedacht habe. Gut so!
Ich will keine theologischen Fragen erörtern vor meiner rituellen Waschung, die ich jeden Morgen durchführe, weniger aus religiösen als aus hygienischen Gründen. Hygiene ist wichtig!
Ich weiß, viele Leute sehen das anders. Vor allem im Bus trifft man immer wieder auf Anhänger der Theorie, zu viel Waschen würde die natürlichen Abwehrstoffe auf der Haut zerstören. Nicht dass sie ihre Ansichten diesbezüglich offen äußern würden. Aber man riecht es.
Natürlich kann es für Hygienefeindlichkeit gute Gründe geben. Elefanten wälzen sich im Staub und schützenihre Haut so gegen Parasiten, das geht auch. Schweine suhlen sich, warum nicht? Aber genau das ist der Grund, warum Elefanten oder Schweine so selten Bus fahren!
Ich habe nichts gegen Schweine, ich halte sie
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