Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Macht der Strömung zu spüren, wie sie sich einem eisigen Griff gleich um seine Beine legte und an ihm zu ziehen begann. Wie ein tödliches Gift schlich sich in Sekundenschnelle die Angst vor dem tiefen Blau in ihm ein und mit ihr das erschreckende Bewusstsein, dass er dem Meer ausgeliefert war. Es war eine alte, längst überwunden geglaubte Furcht, doch jetzt war sie so stark, dass sie Arjen zögern ließ. Augenblicklich erstarrten seine Arme und Beine, eine Welle schlug über seinem Kopf zusammen, und er erahnte, wie ihn die Strömung mit sich nehmen würde, wenn er nicht sofort umkehrte. Beweg dich, spornte er sich an, während ihm beißendes Salzwasser in die Nase stieg. Ruben kann dich jetzt nicht zu deinem Glück zwingen, das musst du selbst tun oder untergehen. Unwillkürlich blickte er nach oben, sah schäumendes Wasser und Luftblasen. Es war wie damals, als sein Freund ihn kurzerhand unter Wasser gedrückt hatte, als er zu lange zögerte. Arjen holte die letzten Reserven aus seinen geschundenen Gliedern und streckte die Arme, bis er glaubte, seine Muskeln zerreißen zu hören. Dort vor ihm glitt ein Körper durch die Schichten aus funkelndem Blau! Aber er war bereits zu weit weg, egal wie sehr Arjen sich anstrengte, er erreichte ihn nicht. Er hatte zu lange gezögert. Dann erblickte er ein letztes Mal Rubens helles Haar, ehe es in der Gischt verschwand. Alles, was blieb, war das Meer und ein strahlend blauer Himmel.
Später fand Arjen sich am Strand wieder, im klammen Sand sitzend, mit nur einem Schuh am Fuß. Er konnte unmöglich sagen, wie lange er schon auf das Spiel der Wellen blickte. Du hast ihn verloren, hämmerte es in einem fort hinter seiner Stirn. Du hast zugelassen, dass er dir verloren geht. Es ist deine Schuld … Dieser Gedanke, der eigentlich mehr ein Gefühl war, wurde übermächtig, während das Wissen, etwas Unersetzbares unwiederbringlich verloren zu haben, sich immer tiefer in ihn fraß. Es war ein unerträglicher Schmerz, und die Wunde, die er riss, würde sich niemals schließen, davon war Arjen überzeugt. Du hast gezögert, es ist deine Schuld … In seinem Inneren klaffte ein Abgrund und breitete sich immer weiter aus. Aber seine innere Stimme sagte ihm auch, dass er nicht hinabstür zen würde, solange er sich von den Rändern des Abgrunds fernhielt. Nur dann würde er überleben. Vielleicht würde er eines Tages die Stärke aufbringen, sich diesem Verlust zu stellen, aber nicht jetzt, sonst würde er zerbrechen.
Mühsam stand Arjen auf und wandte sich vom Meer ab. Er warf keinen Blick zurück, während er die Düne erklomm.
Epilog
BEEKENSIEL, SOMMER 2013
Greta blieb vor der Haustür der alten Reetdachkate stehen und nahm sich die Zeit, einen Moment innezuhalten. Dabei quälte sie die Neugier, seit Mattes sie am Auricher Bahnhof in Empfang genommen hatte. Seit fast einem Jahr hatte sie die Insel nicht mehr gesehen …
Tief einatmen, forderte Greta sich auf . Dann besann sie sich ganz auf die Tür und legte ihre Hand auf das frisch lackierte Holz. Auch wenn es bloß ihrer Fantasie entspringen mochte, so glaubte sie doch, ein Pochen zu spüren: das Herz der Kate. Magdas Haus, zu dem sie von Anfang an eine besondere Bindung empfunden hatte, sprach stärker zu ihr als je zuvor. Sie hatte es so vermisst, die ganzen vergangenen Monate, die sie in Meresund bei ihrem Großvater verbracht hatte, um ihn auf seiner letzten Strecke des Weges zu begleiten. Nie zuvor hatte sie Winter, Frühjahr und die ersten Sommertage deutlicher wahrgenommen als an Arjens Seite, der jeden Tag so intensiv erlebte, wie sein Zustand es zuließ. Obwohl in ihrer Familie niemand die Trauer hatte verwinden können, war es ihnen gemeinsam trotzdem gelungen, das Leben um Arjen herum nicht zum Erliegen zu bringen und den Alltag wie ein liebgewonnenes Ritual zu zelebrieren. Am Ende hatten sie sein Gehen akzeptiert, wodurch der Verlust sich nicht scharf und zersetzend, sondern beinahe sanft angefühlt hatte. Nun war Arjen begraben – als zufriedener Mann, der am Ende mit sich versöhnt auf sein Leben zurückgeblickt hatte.
»Ein Teil von mir wird immer glauben, dass ich Ruben an jenem Sommertag hätte retten können. Dass ich versagt habe, als sein Leben in meiner Hand lag«, hatte Arjen ihr gestanden, als er an einem seiner letzten Tage in Decken gehüllt im Garten saß. Die Apfelbäume blühten, und es duftete nach frisch gemähtem Rasen. »Ein viel größerer und wichtigerer Teil von mir ist aber vor allem
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