Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
schon bald von den Wellen weggewischt werden würde. »Nun, zumindest das, was von ihm übrig ist. Selbst wenn ein Wunder passiert und der wieder auf die Beine kommt, wird er keinen blassen Schimmer haben, was genau geschehen ist. Vermutlich wird er von rein gar nichts einen Schimmer haben. Aber du hast recht, der Riss in seinem Schädel und die paar anderen Blessuren könnten falsch verstanden werden. Die Leute nehmen ja immer gleich das Schlimmste an, da sollten wir lieber Vorsorge treffen.« Als Arjen zornig aufschrie, umfasste Haro seinen Kehlkopf so hart, dass es sich anfühlte, als würde er ihn gleich eindrücken. »Du kannst später rumwüten, so viel du willst, jetzt hörst du mir aber erst einmal zu. Dein Freund hat alles auf eine Karte gesetzt, und er hat verloren. Die Fotoabzüge haben wir verbrannt, und es dürfte nicht allzu schwer sein, die dazugehörigen Negative zu finden. Ich weiß nämlich, wo die Ratte sich verkrochen hat: in dieser Ruine beim Nordstrand, dem richtigen Heim für Ungeziefer wie ihn. Dort hätte dein Freund Ruben mal schön hocken bleiben sollen, anstatt sich einen Platz unter den ehrbaren Bürgern ergaunern zu wollen. Jedenfalls scheint mir dieses Loch das perfekte Versteck für die Negative zu sein, und wir werden es ausräuchern, sobald ich mit dir fertig bin. Es heißt schließlich nicht umsonst, dass Feuer eine reinigende Wirkung hat.«
»Mach, was du willst, aber lass mich los«, brachte Arjen unter Qualen hervor. »Ich muss mich um Ruben kümmern, er braucht einen Arzt, er …«
»Ganz ruhig.« Trotz der Lage war Haro kein bisschen aufgeregt, vielmehr schien es, als würde er sie genießen. Nichts berührte ihn, er war durch und durch kühler Verstand. »Dir muss klar sein, dass egal, was du im Dorf herumerzählen wirst, dir niemand glauben wird. Du hast keine Beweise, und – was noch viel mehr zählt – wir sind in der Überzahl. Ein kleiner Ort wie Beekensiel kann verdammt ungemütlich werden, wenn man sich mit den falschen Leuten anlegt. Dazu musst du dir nur das Schicksal deines Freundes anschauen: Für die Beekensieler existierte dieser Bursche nicht, niemand würde ihn vermissen, schließlich wimmelt es auf der Insel nur so vor Flüchtlingen, die kommen und gehen, wie sie wollen. Und dieser da … Der ist jetzt auch gegangen. Niemand wird nach ihm fragen, niemand wird ihn vermissen.«
Beide blickten sie zu Ruben hinüber, dessen Arm gerade zur Seite sank, wie Arjen mit einem Aufstöhnen bemerkte. Die Flut hatte Ruben erreicht, grub den Sand unter ihm hinfort, während die Wellen an ihm zogen. Oder hatte er sich doch aus eigener Kraft bewegt? So musste es sein, Rubens Geschichte konnte unmöglich schon beendet sein. Nein, er hatte sich aus eigener Kraft bewegt, so war es!
Auch Haro war diese Bewegung nicht entgangen, wie seine gekrauste Stirn bewies. »Da kommt mir eine Idee«, sagte er. »He, Georg, verhilf unserem Freund Ruben doch zu einem Bad. Na los, zieh ihn ins Wasser, aber pass auf, die Strömung ist hier verdammt stark. Am Kap sind schon ganz andere beim Schwimmen umgekommen. Nicht wahr, Rosenboom?« Endlich zeigte sich eine Regung auf Haros Gesicht: Es war ein Lächeln. »Dein Freund, der wollte doch schon immer bis zum Horizont schwimmen. Jetzt bekommt er zu guter Letzt noch seinen Willen.«
Arjen versuchte auszubrechen, selbst um den Preis, sich dabei selbst zu verletzen, doch es gelang ihm nicht. Der Mann, der ihn von hinten festhielt, verstand sein Geschäft, und Haro sicherte ihn von vorne. Hilflos musste Arjen zusehen, wie dieser Georg Ruben, den das Wasser bereits auf den Rücken gedreht hatte, sodass er mit seinen mittlerweile ganz geöffneten Augen ins grelle Sonnenlicht blickte, unter den Armen packte und in die Brandung schleifte. Als der Mann hüfthoch im Wasser stand und eine Welle ihn beinahe umgerissen hatte, ließ er fluchend von Ruben ab.
Mit einem Schrei gelang es Arjen endlich, sich loszureißen. So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er ins Meer und schmiss sich gegen die Strömung. Die Flut schien ihm zuzuspielen, zumindest glaubte er Rubens hellen Schopf im Wasser aufleuchten zu sehen. Arjen ignorierte das Zerren in seinen Muskeln genau wie seine brennenden Sehnen und hielt auf die Stelle zu, wo er die blonden Haare gesehen zu haben glaubte. Und tatsächlich: Die schäumende Brandung trieb Ruben hinauf, fast sah es so aus, als gleite er über die Wellen.
Ruben lebt! Er muss einfach leben …
In diesem Moment bekam Arjen die
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