Das Geheimnis des weißen Bandes
Bande verlangt hätte? Das werden wir niemals wissen. Denn im nächsten Augenblick erfolgte eine gewaltige Explosion, und die ganze Seitenwand des Waggons wurde aufgerissen. Der Wachmann war sofort tot. Der Safe mit dem Bargeld stand vor den Räubern.
Eine zweite, kleinere Ladung genügte, um ihn zu öffnen, und jetzt erst merkten die Brüder, dass man sie falsch informiert hatte. Lediglich zweitausend Dollar wurden der Massachusetts First National Bank geschickt, für diese Ganoven vielleicht ein Vermögen, aber weitaus weniger, als sie erhofft und erwartet hatten. Trotzdem griffen sie mit Jubelrufen und Gebrüll nach dem Geld, und es war ihnen völlig gleichgültig, dass sie zwei Tote zurückließen. Dass ihre Sprengsätze außerdem noch vier Gemälde zerstört hatten, die zwanzigmal mehr wert waren als ihre Beute, hatten sie gar nicht gemerkt. Die Vernichtung dieser und der anderen Bilder stellt einen unersetzlichen Verlust für die britische Kultur dar. Heute muss ich mich sehr gezielt daran erinnern, dass an jenem Tag ein pflichtbewusster junger Mann starb, aber ich müsste lügen, wenn ich leugnen wollte, dass ich, so beschämend es sein mag, den Verlust der Bilder zumindest genauso bedauere.
Mein Partner, Mr. Finch, und ich hörten mit Entsetzen von der Untat. Zuerst glaubten wir noch, die Bilder wären gestohlen worden, was uns viel lieber gewesen wäre, weil sich dann zumindest irgendwer daran erfreut und eine gewisse Aussicht bestanden hätte, die Werke zurückzubekommen. Aber ein solch unglückliches Zusammentreffen von Gier, Gewalt und Vandalismus! So viele herrliche Bilder wegen einer Handvoll läppischer Dollarscheine zerstört! Wie bitterlich bereuten wir, dass wir ausgerechnet diesen Versandweg gewählt hatten! Natürlich gab es auch finanzielle Aspekte. Mr. Stillman hatte eine große Anzahlung geleistet, aber dem Vertrag nach waren wir vollständig für die Bilder verantwortlich, bis sie ihm in Amerika übergeben wurden. Zum Glück waren wir bei Lloyd’s of London versichert, sonst wären wir bankrott gewesen, denn früher oder später hätten wir Mr. Stillman sein Geld zurückgeben müssen. Außerdem war da noch die Familie des jungen James Devoy. Erst nach seinem Ableben erfuhr ich, dass er eine Frau und ein kleines Kind hatte. Jemand musste sich um sie kümmern.
Es gab also mehrere Gründe, warum ich mich zu einer Reise in die Vereinigten Staaten entschloss. Ich verließ England innerhalb weniger Tage und begab mich zunächst nach New York, wo ich mit Mrs. Devoy zusammentraf und ihr eine Entschädigung für den Tod ihres Mannes versprach. Ihr Sohn war gerade neun Jahre alt, und ein lieberes, hübscheres Kind kann man sich kaum vorstellen. Dann reiste ich weiter nach Boston und von dort nach Providence, wo Mr. Stillman sein Sommerhaus hatte. Ich muss zugeben, dass ich trotz der vielen Stunden, die ich bereits in der Gesellschaft dieses Mannes verbracht hatte, nicht auf den Anblick gefasst war, der mich erwartete. Shepherd’s Point war ein gewaltiges Bauwerk, das der gefeierte Architekt Richard Morris Hunt im Stil eines französischen Château errichtet hatte. Allein die Gärten erstreckten sich über dreißig Morgen, und das Innere erstrahlte in einem Glanz, der alles übertraf, was ich mir hätte vorstellen können. Stillman bestand darauf, mir alles persönlich zu zeigen, und ich werde diesen Rundgang niemals vergessen. Die große Eingangshalle wurde von einer herrlichen Treppe aus edlem Holz beherrscht, die Bibliothek umfasste fünftausend Bände, das Schachspiel hatte einmal Friedrich dem Großen gehört, in der Kapelle stand eine alte Orgel, die Purcelleinst gespielt hatte … als wir schließlich den Keller mit dem Swimmingpool und der Bowlingbahn erreicht hatten, war ich wie erschlagen. Und dann erst die Kunstwerke! Ich zählte Gemälde von Tizian, Rembrandt und Velasquez – und das noch ehe ich im Salon war. Als ich diesen gewaltigen Reichtum sah und an das grenzenlose Vermögen dachte, über das mein Gastgeber ohne Zweifel verfügte, formte sich eine Idee in meinem Kopf.
Beim Abendessen, das wir an einer riesigen mittelalterlichen Tafel einnahmen, während wir von schwarzen Lakaien in kolonialer Kleidung bedient wurden, schnitt ich die Frage an, wie Mrs. Devoy und ihrem Sohn geholfen werden könnte. Stillman versicherte mir, dass er die Stadtväter von Boston aufmerksam machen würde. Er sei zuversichtlich, dass sie sich der Sache annehmen würden, auch wenn Mrs. Devoy und ihr Sohn
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