Das Geheimnis des weißen Bandes
nicht alle ihre Ziele erreicht hatten. Meine Heimreise hatte ich auf der SS Catalonia von der Cunard Line gebucht. Ich bedauerte es, Mrs. Devoy und ihrem Sohn nicht Lebewohl sagen zu können, aber ich hatte keine Zeit mehr, noch einmal nach New York zu fahren. Ich verließ das Hotel, und ich erinnere mich, dass ich bereits auf der Gangway des Schiffes war, um an Bord zu gehen, als mich die Nachricht erreichte. Ein Zeitungsjunge rief das Abendblatt aus, und es war die Hauptschlagzeile, gleich auf der ersten Seite.
Cornelius Stillman war in Providence im Rosengarten seines Sommerhauses erschossen worden. Mit zitternder Hand kaufte ich ein Exemplar der Gazette. Der Angriff war schon am Vortag erfolgt; verdächtigt wurde ein junger Mann, der eine derbe Köperjacke, einen Schal und eine flache Mütze trug und eilig vom Tatort geflohen war. Die Fahndung hatte bereits begonnen und sollte sich auf ganz Neuengland erstrecken, denn die Ermordung eines Brahmanen von Boston war ein Verbrechen, bei dessen Verfolgung weder Mühen noch Kosten gescheut werden durften, bis der Täter vor Gericht gebracht war. Nach Angaben der Polizei würde Bill McParland sich an der Jagd beteiligen, was eine gewisse Ironie enthielt, weil er und Stillman sich in den letzten Wochen vor dem Tod des großen Mannes zerstritten hatten. Stillman hatte nämlich die Hälfte der vereinbarten Bezahlung zurückgehalten, mit der Begründung, die Aufgabe des Pinkerton-Mannes wäre erst dann erledigt, wenn auch die Leiche des letzten Bandenmitglieds gefunden war. Besagte Leiche allerdings war offenbar auferstanden, denn es konnte kein Zweifel bestehen, wer Stillmans Mörder gewesen war.
Ich las die Zeitung und stieg die Gangway hinauf. Dann ging ich direkt zu meiner Kabine und blieb dort bis sechs Uhr abends, als die Schiffssirene ertönte, die Leinen losgemacht wurden und die SS Catalonia gemächlich den Hafen verließ. Erst dann ging ich hinauf an Deck und sah zu, wie Boston hinter mir im Dunst der Dämmerung versank. Ich war heilfroh, dass ich da raus war.
»Das, meine Herren«, sagte Carstairs, »ist die Geschichte der verlorenen Constables und meiner Reise nach Amerika. Natürlich berichtete ich meinem Partner, Mr. Finch, in allen Einzelheiten, was in Boston passiert war, und das eine oder andere erzählte ich auch meiner Frau. Aber sonst habe ich es keinem Menschen gegenüber je wieder erwähnt. Es ist jetzt weit über ein Jahr her, und bis der Mann mit der flachen Mütze vor meinem Haus in Wimbledon erschien, war ich auch fest überzeugt, ja, ich betete darum, dass ich nie wieder darüber reden müsste.«
Holmes hatte sein Pfeife längst zu Ende geraucht, als der Kunsthändler schließlich zum Ende seiner Erzählung kam. Er hatte seine langen Hände vor sich zusammengefaltet, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck äußerster Konzentration. Als Carstairs verstummte, entstand ein längeres Schweigen. Im Kamin fiel ein Brikett in sich zusammen, das Feuer knisterte und ein paar Funken stoben. Das Geräusch schien Holmes aus seiner Träumerei zu wecken.
»Welche Oper wollten Sie heute Abend besuchen?«, fragte er.
Es war wohl die letzte Frage, die ich nach alledem erwartet hätte. Sie schien im Licht der schrecklichen Ereignisse, von denen wir gerade gehört hatten, so völlig trivial, dass ich mich schon fragte, ob er absichtlich unhöflich war.
Edmund Carstairs muss wohl dasselbe gedacht haben. Er schrak zurück, warf erst mir, dann Holmes einen Blick zu und sagte: »Eine Wagner-Oper – aber hat denn das, was ich Ihnen erzählt habe, überhaupt keinen Eindruck auf Sie gemacht?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Holmes. »Ich fand es außerordentlich interessant und möchte Sie zu der Klarheit und Detailgenauigkeit sehr beglückwünschen, mit der Sie das alles erzählt haben.«
»Und der Mann mit der flachen Mütze …«
»Sie glauben offenbar, dass es Keelan O’Donaghue ist. Sie denken, er wäre Ihnen nach England gefolgt, um sich an Ihnen zu rächen.«
»Was soll es sonst für eine Erklärung geben?«
»Ich könnte auf Anhieb ein halbes Dutzend andere nennen. Ich habe schon oft bemerkt, dass eine Serie von Ereignissen die verschiedensten Interpretationen erlaubt und man nichts ausschließen soll, ehe das Gegenteil nicht erwiesen ist. Das Gefährlichste sind voreilige Schlüsse, davor muss man sich unbedingt hüten. In diesem Falle könnte es durchaus sein, dass der junge Mann den Atlantik überquert hat und sich zu Ihrem Haus in Wimbledon
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