Mein Leben für dich
PROLOG
Zwei Wochen vorher
»Simon Winter?«
Der junge Mann blickte in Zeitlupe auf und warf dem Gefängniswärter ein gelangweiltes Kopfnicken zu, obwohl sein Puls auf hundertachtzig war. Mit einem Handzeichen fordete ihn der Wärter auf, ihm zu folgen. Der Typ war ihm auf Anhieb unsympathisch, und es ärgerte ihn, dass er wie ein Schuljunge hinter diesem Trottel herlaufen musste. Daher achtete er darauf, dass der Abstand zwischen ihnen möglichst gering blieb. Er wollte diesem Babyface in Uniform auf gar keinen Fall das Gefühl vermitteln, er hätte auch nur ansatzweise Respekt vor ihm.
Simon schätzte seinen Vordermann auf ungefähr Mitte zwanzig, also war er gerade mal vier, fünf Jahre älter als er selbst. Allerdings wirkte er alles andere als männlich oder Furcht einflößend. Er erinnerte Simon an einen dieser Loser mit rosafarbenen Bäckchen und Scheitelfrisuren, denen man früher in der Schule aus reiner Freude eine aufs Maul gehauen hatte. Genau diese Typen schmissen sich später in Uniformen, um sich an der Ungerechtigkeit der Welt rächen und ihre hart erkämpfte Macht ausspielen zu können. Klarer Fall.
Spacko-Arsch! , formte Simon mit den Lippen und zeigte dem Rücken seines Vordermanns den Mittelfinger.
Ihre Schritte hallten durch die nackten Gänge. Er konzentrierte sich darauf, nicht im selben Rhythmus mit dem Wärter zu gehen, sondern den Fuß immer dann aufzusetzen, wenn der andere seinen gerade anhob. Sich im Gleichschritt mit ihm zu bewegen, wäre ihm schwach vorgekommen. Mehr noch: wie ein Einverständnis zwischen ihnen. Und das wiederum kam einem Verrat an Ben gleich. Scheiße noch mal. Ben saß hier fest. Wegen ihm, seinem bescheuerten kleinen Bruder. Es war Simons Chance gewesen, sich zu beweisen – das erste Mal, dass er ganz allein ein Ding drehen sollte. Und er hatte es verbockt. Allein bei der Erinnerung an vorletzte Nacht wurde ihm sofort wieder schlecht. Ben würde sich natürlich bestätigt fühlen. Und was Rick betraf … Ihn hatte er seither zwar nicht gesehen, aber er würde alles andere als begeistert sein. Simon hatte ihn wochenlang anbetteln müssen, bis er endlich diesen Auftrag bekommen hatte. Ben war ziemlich angepisst gewesen. Er hatte seinen kleinen Bruder von vornherein nicht dabeihaben wollen und hatte alles versucht, um ihn von der Clique um Rick fernzuhalten. Dabei wollte Simon gerade ihm zeigen, was er draufhatte. Dass er längst kein kleiner Junge mehr war, den man vor der Welt beschützen musste. Umso schlimmer, dass er sich dermaßen bescheuert angestellt hatte.
Es war um einen schwarzen Lexus gegangen, der auf einem Privatgelände stand. Einfach gesichert. Eine Nullachtfünfzehn-Alarmanlage. Als Trockenübung hatte er die Dinger schon zigmal geknackt, immer innerhalb weniger Sekunden – und trotzdem hatte er dann im entscheidenden Moment versagt. Es waren seine Finger gewesen. Sie hatten plötzlich angefangen zu zittern. Der Alarm war losgegangen, und was hatte er Vollidiot getan? War einfach stehen geblieben, wie gelähmt, hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Auch dann nicht, als ihn jemand von den anderen zurückgepfiffen hatte. Und auch nicht, als kurz darauf die Polizeisirenen zu hören gewesen waren. Er war stocksteif dagestanden wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Erst als sein Bruder wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn mit voller Wucht vom Auto weggeschubst hatte, hatten sich sein Verstand und seine Muskeln wieder eingeschaltet. Dann endlich war er gerannt. Aber da war es schon zu spät gewesen. Nicht für ihn, aber für Ben.
»Sie haben zehn Minuten.« Der Wärter sperrte eine Eisentür auf, ließ ihn eintreten, ohne einen Blick hineinzuwerfen, und schloss sie gleich wieder.
Die Brüder waren allein in dem kleinen, spärlich eingerichteten Raum. Ben erhob sich von seinem Stuhl und trat auf Simon zu. Er lächelte. Ben hatte ein umwerfendes Lächeln. Eines, das ihm die Mädchen reihenweise in die Arme trieb. Alle sagten, sie sähen sich ähnlich. Aber in Simons Augen wirkte Ben härter, entschlossener. Vielleicht waren es die fünf Jahre Altersunterschied. Vielleicht auch die Erfahrungen, die Ben in den letzten neun Jahren da draußen gesammelt hatte.
»He, Kleiner!« Ben hob seine Faust und Simon tat es ihm gleich. Sie boxten sie gegeneinander, so wie immer, wenn sie sich begrüßten oder verabschiedeten. Aber dieses Mal war Simon unwohl dabei. So zu tun, als wäre alles easy, fühlte sich an diesem Ort falsch an. Verdammt falsch
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