Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
wenigen Minuten war er ins Schwitzen gekommen. Er haßte diese schwülen Nächte. Wieder würde er ohne Ventilator nicht schlafen können. Er liebte die Wintermonate, ganz im Gegensatz zu seiner Claudia, die heute ihren Kegelabend im Gallus hatte und erst viel später nach Hause kommen würde. Sie hatten sich auseinandergelebt in den letzten Jahren ihrer nun schon ein Jahrzehnt andauernden Partnerschaft. Von sich wußte Heinz-Günther, daß er einfach nur zu bequem für einen Schlußstrich war. Von seiner Frau erahnte er es. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er noch nicht zu alt für eine neue Beziehung, überlegte er. Aber er wollte alles auf sich zukommen lassen, das war seine Natur. Ergab sich was, dann gut. Wenn nicht, dann auch gut. Außerdem waren sie nicht verheiratet, eine Trennung konnte gegebenenfalls also ganz schnell über die Bühne gehen.
Auf den Bänken vor dem Kiosk, an dem sich tagsüber die Kinder und Mütter mit Eis und Getränken versorgten und der in den Abendstunden ein beliebter Treffpunkt war, saß niemand mehr. Heinz-Günther Sattler kramte schon mal seine Schlüssel hervor, die er bald brauchen würde.
Dann brauchte er sie doch nicht mehr. Die Wucht, mit der sein Kopf an den Haaren nach hinten gezerrt wurde, erzeugte noch eine kleine Abwehrreaktion seinerseits. Der kräftige Schnitt quer durch seinen Hals beendete sein Leben. Blut spritzte nach allen Seiten, während er vornüber auf den Weg sank. Seine Knie knickten von ganz alleine ein.
Sofort wurde der Leichnam am Kragen Richtung Dortelweiler Straße geschleift. Als der Mörder ganz am oberen Ende ein paar Scheinwerfer erblickte, zerrte er den leblosen Körper durch zwei parkende Wagen hindurch auf die Fahrbahn. Zum Plan gehörte, daß er schnellstmöglich entdeckt wurde. Dann schwang er sich auf seinen Drahtesel und raste davon. Fast alle Fenster der gegenüberliegenden Altbauten waren dunkel. Unwahrscheinlich, daß ihn jemand beobachtet hatte. Und wenn doch, umso besser. Dafür war ja die Verkleidung gedacht.
Im letzten Moment konnte der herannahende Fahrer noch bremsen. Dr. Foggenhausen kam von einem 18-Stunden-Dienst und war dementsprechend erledigt. Nachdem er den Tod des auf der Straße Liegenden konstatiert hatte, wählte er die 110.
Mit einem selbstgefälligen Grinsen auf dem Gesicht radelte er auf Teufel komm raus. Der Zirkus vor der Eissporthalle flog nur so an ihm vorüber. Er wechselte die Straßenseite. Auf dem Radweg am Ostpark mußten keine Querstraßen passiert werden. In der menschenleeren Unterführung zwischen Ratsweg und Kaiserleibrücke zog er den Malerkittel aus und verstaute ihn in einer Plastiktüte. Sollte er irgendwem aufgefallen sein, von nun an würde sich die Spur des wie irre radelnden Malers für immer verlieren. Ein Blick auf die Uhr und er fuhr schnell weiter. Am Fußballplatz der Fortuna bog er in die Wasserhofstraße ein. Einige Minuten später stand das schwarze Rennrad verschlossen an einem Laternenpfahl an der S-Bahnstation zum Mühlberg. Dort konnte es von ihm aus bis in alle Ewigkeiten vor sich hinrosten. Er zog die cremefarbenen Plastikhandschuhe aus und warf die geforderten ein Euro fünfzig für eine Kurzstrecke in den Schlitz des Automaten.
Bevor er die Straßenbahn am Oberräder Markt verließ, klopfte er an die Fahrerkabine. „Entschuldigung, aber das hier habe ich eben neben meinem Sitz gefunden.“
Er überreichte dem Fahrer ein Bund mit drei Schlüsseln, allesamt nach und nach auf verschiedenen Flohmärkten erstanden. Kein Mensch würde sie auf der Fundstelle je abholen, aber er hatte ein Alibi für fast unmittelbar nach der Tat. Er rechnete nicht damit, daß es von Relevanz war, aber wie gesagt, er war ein ordentlicher und akribischer Zeitgenosse.
Nun war er ein Mörder, der erste Eintrag in sein Sündenregister war vollzogen. Zwei weitere sollten noch folgen. Doch erst der letzte sollte ihm die Befriedigung verschaffen, nach der er trachtete.
Genüßlich sog er die Nachtluft ein und sah den Lichtern der 16 nach. Euphorisch schwenkte er die Plastiktüte und bog in die Buchrainstraße ein. Noch hatte er keinen Feierabend.
– Ende der Rückblende –
Etwa drei Wochen nach dieser Tat, die in Sachsenhausen niemandem wirklich an die Nieren gegangen war, hockte Herr Schweitzer mit knurrendem Magen im Weinfaß. Er hatte sich geschworen, dieses Mal niemandem davon zu erzählen, daß er fürderhin einen großen Abstand zwischen sich und maßlosen Völlereien zu halten gedachte.
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