Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
stand. „Wie wär’s mit dem Dautel? Wir könnten dort auch essen.“
„Dautel? Wo ist der?“
„Neuer Wall. Äh, kennst du die Bushaltestelle von Alt-Sachsenhausen?“
„Ich glaube schon.“
„Gut. Etwa fünfzig Meter Richtung Osten. Die Straße, die immer noch gepflastert ist, das ist der Neue Wall.“
„Okay. Wann?“
Herr Schweitzer hörte auf seinen Bauch. Je später er zu Abend aß, desto leiser würden die Schreie seines Magens nach blutigen Steaks mit Pommes kurz vorm Einschlafen zu hören sein. „Sagen wir um acht?“
„Gebongt. Bis später. Ciao.“
„Tschö.“
Den Apfelwein-Dautel gibt’s schon ewig. Er liegt quasi direkt auf der Demarkationslinie zwischen der weithin bekannten Touristenarena Alt-Sachsenhausen und dem großen Rest dieses Stadtteils, in dem sich die Einheimischen heimisch fühlen. Es gibt nur wenige Sachsenhäuser, die es auf diese Partymeile zieht. Synonym für den ätzenden Schwachsinn, der sich dort meist am Wochenende abspielt, ist die Lokalität Unterbayern. Nicht umsonst parkt davor oft ein Polizeiauto, weil sich dort die meisten Kloppereien abspielen. Testosterongesteuerte Halbwüchsige tragen hier ihre anabolikagestärkten Muskeln zur Schau und üben sich im Komasaufen. Blondgefärbte Bauernmädels – Rodgau, Wetterau, Main-Kinzig-Kreis etc. – stehen daneben und gucken, welcher dieser intelligenzfreien Bubis eventuell als Erzeuger von Stammhaltern in Frage käme. Wie zu Zeiten, als der Mann noch auf die Jagd ging, werden die Gewinner der Kloppereien natürlich bevorzugt. Kann er dann auch noch ein tiefergelegtes Fahrzeug sein eigen nennen, ist der Beischlaf so gut wie geritzt.
Als wäre diese Plage der einfallenden und geistig limitierten Bauernkinder nicht schon Strafe genug für Sachsenhausen, so ist in den letzten Jahren ein weiteres, noch perverseres Phänomen aus England herübergeschwappt: Junggesellenabschiede. Alles wäre nur halb so schlimm, würden diese krakeelenden Horden ihre irre lustigen Aktivitäten auf Alt-Sachsenhausen beschränken. Aber nein, bereits mit dem Verlassen der S-Bahnstationen Süd- und Lokalbahnhof penetrieren sie die Bevölkerung, indem sie, in Einheits-T-Shirts gekleidet, Kondome, Lutscher und ähnlichen spaßfreien Unsinn an den Mann zu bringen versuchen. Auch darf man für einen Euro die künftige und brünstige Braut respektive den Bräutigam küssen. Bei etlichen dieser in Bälde Verheirateten fragt sich der Sachsenhäuser natürlich, ob es nicht angebrachter wäre, statt einen Euro zu zahlen, Hunderte zu verlangen. Nach verlorenen Kriegen nennt man so etwas dann Reparationszahlungen. Angebracht wären sie, denn vollgekotzte Bürgersteige, zerbrochene Bierflaschen und Fast-food-Verpackungsabfall zieren die Bürgersteige, wenn sie mit dem Marodieren fertig sind.
Auch Herr Schweitzer mied Alt-Sachsenhausen wie die Pest, obwohl es dort tatsächlich noch die eine oder andere angenehme Kneipe gab. Spritzehaus, Altes Haus und Zum alde Germane, um nur einige zu nennen. Aber wenn, dann nur unter der Woche, wenn die Bauern ihre Äcker zu bestellen hatten. Ansonsten war der Dautel die absolute Schmerzgrenze.
Da er um Ellys Zigarettenkonsum wußte, nahm er, der stets eher zu früh statt zu spät dran war, im Innenhof Platz. Er bestellte eine Apfelsaftschorle. Die Speisekarte übersah er geflissentlich. Herr Schweitzer wollte warten, bis Elly eingetrudelt war. Trotz des hochsommerlichen Wetters war der Hof fast leer. Die meisten Gäste saßen an den Tischen und Bänken am Neuen Wall. Wegen des Sehens und Gesehenwerdens, wie er vermutete.
Elly McGuire kam mit Ferdi, dem Taxifahrer. Sie trug einen schwarzen Longblazer mit goldfarbenen Knöpfen und hochhackige rote Schuhe, die gut zu ihren Haaren paßten. Ferdi, den Herr Schweitzer öfter auf dem Handy anrief, wenn er mal ein Taxi brauchte, war wie immer sehr leger gekleidet.
Nach der Begrüßung widmete man sich erst einmal der Speisekarte. Nach eingehendem Studium selbiger entschied sich Elly, die in ihrer Wahlheimat Argentinien mit diversen Fleischgerichten auf höchstem Level verwöhnt wurde, für die Spezialität Grüne Soße, schließlich braucht der Gaumen ja auch Abwechslung. Ferdi wählte den Flammkuchen Classic und Herr Schweitzer, nach zähem Ringen, einen Salatteller mit Putenbruststreifen. Vor- und Nachspeise würden seinem Diätplan zum Opfer fallen. Er konnte, wenn er wollte, knallhart gegen sich selbst sein.
„Ach, so manchmal vermisse ich die Frankfurter Küche
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