Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
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Kein Lüftchen wehte, als mainaufwärts ein heller horizontaler Streifen den neuen Tag ankündigte. Er stand auf einem Ponton des Rudervereins an der Gerbermühle und von weitem sah es aus, als füttere er Enten. Und tatsächlich hatte er auch einige Brotkrumen untergemischt, nach denen das Federvieh begierig und schnatternd die Hälse reckte. In der Hauptsache aber war die Plastiktüte vom Aldi mit zerkleinerten, während der Tat getragenen Kleidungsstücken gefüllt. Am meisten Arbeit hatte er mit den Schuhsohlen aus Hartgummi gehabt. Hunderte kleiner Schnipsel verteilten sich auf der Wasseroberfläche und trieben Richtung Osthafen. Anfangs hatten die Enten noch nach jedem Happen geschnappt, mit der Zeit jedoch zu unterscheiden gelernt, was eßbar war und was nicht. Er fragte sich, wie viel von dem, was er hier ins Wasser warf, wohl das Rhein-Maas-Delta erreichte und was in der Uferböschung unterwegs hängenblieb.
Er wartete, bis der einsame Jogger mit dem hechelnden Labrador hinter den Tennisplätzen verschwunden war, dann holte er weit aus und warf das Messer, das vor wenigen Stunden dem Leben von Heinz-Günther Sattler ein jähes Ende bereitet hatte, in hohem Bogen von sich. Vielleicht, aber nur vielleicht würde es in einigen Jahren, wenn mal wieder die Fahrrinne ausgebaggert wurde, aus der Versenkung auftauchen. Doch dann würde es kein von der Kripo händeringend gesuchtes Tatwerkzeug mehr sein, sondern lediglich ein verrostetes, von Algen überwuchertes Etwas, das niemand mehr gebrauchen konnte.
Jeglichen Anschein von Hektik vermeidend nahm er auf der ersten Bank vor den Kleingärten zwischen Fluß und Uferstraße Platz. Tja, du kleiner mieser Penner, gedachte er seinem Opfer, ein klein wenig Reue vor Gericht und du wärst noch am Leben.
Er fühlte sich ausgezeichnet. So ist das also, wenn man jemanden getötet hatte, der nichts anderes verdiente. In sechs Tagen würde er sich um den Bäcker aus Niederrad kümmern müssen. Auch dieser würde seiner gerechten Strafe nicht entgehen, auch wenn er bei dem Unfall damals sein linkes Ohr verloren hatte.
– Ende der Rückblende –
Die Tage nach Jens Auers Beerdigung ließ sich Herr Schweitzer treiben. Seine Mitbewohnerin Laura Roth weilte zu einem Tauchkurs auf den Seychellen und er hatte die Wohnung im unteren Mittleren Hasenpfad für sich alleine. Seine Diät machte Fortschritte, den gröbsten Hunger hatte er überwunden. Die ersten beiden Tage hatte sich Herr Schweitzer noch mit einer Wäscheklammer die Nase und damit den Geruchssinn abklemmen müssen, um sich das Müsli herunterzuwürgen, doch inzwischen ging’s auch ohne Tricks. Auch bewegte er, der passionierte Bewegungsallergiker, sich sehr viel. Ausgiebige Spaziergänge im Stadtwald und am Main entlang brachten ihn langsam wieder in Form. Klar, ein Ironman würde nicht mehr aus ihm werden, aber Herr Schweitzer wollte auch nicht so aussehen wie Alfred Hitchcock mit seinem doppelten Doppelkinn. Er war auf dem besten Wege und das vorletzte Loch seines Gürtels war schon zum Greifen nahe.
Was seine Laune ein wenig trübte, war der Umstand, daß die Kripo im Mordfall Jens Auer den Zeitungsberichten nach zu urteilen das Phantom noch immer nicht identifiziert hatte. Es war nicht zu glauben. Hin und wieder guckte er sich im Fernsehen Aktenzeichen XY mit Rudi Cerne an und da hatte es schon wesentlich ungenauere Phantombilder gegeben, die trotzdem zur Ergreifung des Gesuchten geführt hatten. Als logisch denkender Mensch fühlte er, hier stimmte etwas nicht. Aber was? Ein Ausländer, den hierzulande niemand kannte? Jemand, der sein vorheriges Leben anonym in einer Hippiekommune verbracht hatte? Oder wollte sich der vermeintliche Zeuge einfach nur wichtig machen?
Sei es wie es sei, so lange sich Elly McGuire nicht bei ihm meldete, würde er von sich aus nichts unternehmen. So gut hatte er ihren Bruder nun auch wiederum nicht gekannt, als daß die Täterergreifung zu einer Herzensangelegenheit hätte reifen können.
Es war ein Donnerstag und Herr Schweitzer bereitete sich gerade einen Obstsalat zu, als er heftig erschrak. Er war so tief in Gedanken an das Phantombild versunken, daß der Klingelton seines Handys wie ein Schuß wirkte. Er hoffte, es würde nicht Elly McGuire sein. Natürlich war sie es.
„Wollen wir uns heute abend treffen? Hast du Zeit? Im Weinfaß?“
Viele Fragen auf einmal, dachte Herr Schweitzer. Aber er dachte auch an seinen Speiseplan, auf dem ein großer Salatteller geschrieben
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