Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
der Mob. In Ermangelung geeigneterer Waffen wurden Knüppel geschwungen und messerscharf geschliffene Sensen brünstiger Halbstarker glänzten im Sonnenlicht. Er, Herr Schweitzer, fühlte sich in die Enge getrieben. Viele seiner Soldaten waren bereits zum Feind übergelaufen. Und keine Spur vom König weit und breit. Lange würde die Bastille nicht mehr zu halten sein. Mit ernstem Gesicht überbrachte ihm sein Adjutant die Nachricht, auf der Zugbrücke warte einer mit Parlamentärflagge. Mit betont forschen Schritten, die seine Angst übertünchen sollten, ging er zum hölzernen Haupttor und öffnete ein Guckloch.
Was Herr Schweitzer sah, war ebenso furchterregend wie unmöglich. Denn der Revolutionär, der die weiße Flagge und einen Wisch in Händen hielt und ihn angrinste wie ein Honigkuchenpferd, war kein geringerer als der Hüne aus der Alten Oper. Mit galoppierendem Herzen schloß er das Guckloch. Was macht der Arsch hier in Paris? Warum ist er nicht in Frankfurt, wo er hingehört?
Als sei dies nicht schon genug des Unsinns, kam auch noch Marquis de Sade herangewatschelt und teilte ihm freudestrahlend mit, im Großen Saal sei alles für die von ihm, Kommandant Schweitzer, befohlene Sexorgie vorbereitet und römische Lustknaben würden gefesselt und nackt auf ihren Einsatz warten.
Noch viel mysteriöser wurde das Spektakel, als ihm wohlbekannte Stimmen ins Ohr drangen.
„Na ja, sagen wir mal so, mein Simon kann auch ohne Schlaftabletten so lange schlafen.“
„Wollen wir ihn nicht langsam mal wecken? Immerhin schläft er jetzt schon fünfzehn Stunden. Das kann doch nicht gesund sein.“
„Gesund ist das schon. Behauptet zumindest Simon immer. Aber wecken können wir ihn trotzdem so langsam.“
Als ihn eine zarte Hand an der Wange streifte, zuckte Herr Schweitzer zusammen. War es der Hüne, der ihn zu enthaupten gedachte, oder war es der Marquis, dem die römischen Lustknaben nicht pervers genug waren und der sich statt dessen an einen unschuldigen Sachsenhäuser Privatdetektiv heranmachte?
Da ihm aber beide Optionen völlig indiskutabel erschienen – weder wollte er seinen eigenen Kopf rollen sehen, noch stand ihm der Sinn nach frivol-sadistischem Lustgewinn –, zog Herr Schweitzer die Trumpfkarte, indem er die Augen öffnete. Drei Personen standen um sein Bett herum.
Maria von der Heide – kenne ich, meine Freundin.
Doris Brenn-Scheidler – kenne ich auch, ist die Freundin vom Schmidt-Schmitt, der mein Kumpel ist.
Der Hüne – ist mir nur allzu gut bekannt. Leider. Wollte mir schon wiederholt ans Leder und schreckt wahrscheinlich vor überhaupt nix zurück.
Zwei komplett verschiedene Gefühlswelten kollidierten nun miteinander. Zum einen war da natürlich der Fluchtgedanke, der zum Repertoire eines jeden aufs Überleben geeichten Menschen gehört, zum anderen Herrn Schweitzers Bedürfnis nach Liebe, Harmonie und Geborgenheit. Des Hünen wegen schloß er die Augen, Marias wegen spitzte er die Lippen.
Prompt wurde er geküßt. „Hallo, Schatz. Wie geht es dir?“
Das würde Herr Schweitzer auch gerne wissen. „Weiß nicht“, antwortete er schnell, schob jedoch sogleich die Frage hinterher: „Was will der große Mann an meinem Bett?“
„Du meinst Hauptkommissar Krajczek?“
Herr Schweitzer ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Er erkannte Marias Schlafzimmer, aber außer dem Hünen keinen zweiten Mann. „Hauptkommissar? Wieso Hauptkommissar?“
„Weil ich vor zwei Jahren befördert worden bin“, ertönte eine sonore Baßstimme. „Deshalb.“
„Ach.“
„Kann es sein, daß Sie die Gefahr lieben?“
Hm? Meint der jetzt die Gefahr, in die man sich begibt, wenn man in der Alten Oper versehentlich einen Wecker zum Rasseln bringt? Oder jene, die das Aufspüren von Serienkillern naturgemäß nach sich zieht? Apropos Serienkiller: „Was ist mit Esterházy?“
Als habe sie nur auf dieses Stichwort gewartet, mischte sich Doris Brenn-Scheidler ins Gespräch ein: „Verletzt. Knieschuß. Ich habe ihn erwischt, nachdem er den Hauptkommissar fast …“ Ihre Stimme brach weg.
Krajczek ergänzte: „Halb so wild. Wir haben ihn verhaftet wegen des Mordes an Jens Auer.“
„Nur?“ fragte Herr Schweitzer, der sich vage an einen Gesprächsfetzen mit dem Killer erinnerte. Sein Gedächtnis bezüglich der Geschehnisse am Main war größtenteils den Schlaftabletten zum Opfer gefallen.
Der Hauptkommissar, etwas erbost: „Wieso nur? Ist das nicht genug? Absichtlich töten wir
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