Das Geheimnis von Ella und Micha: Ella und Micha 1 - Roman (German Edition)
ELLA
Ob ich fliegen kann? So wie Wind und Regen mein Haar aufpeitschen, fühlt es sich fast an, als müsste ich bloß die Arme ausbreiten. Wenn ich den Mut aufbringe, von dieser Kante zu springen, könnte ich vielleicht mit kräftigen Schwingen in den Nachthimmel aufsteigen wie ein Vogel.
Und wer weiß? Vielleicht bin ich dann wieder bei ihr.
»Was machst du denn da?«, sagt Micha. Seine Stimme hört sich höher an als sonst. »Komm da runter. Du tust dir noch was.« Der Blick aus seinen wasserblauen Augen bohrt sich durch den Regen in mich, und seine Hände sind auf dem Trägerbalken über seinem Kopf. Er zögert noch, ob er rüberklettern soll.
»Bestimmt nicht«, antworte ich. »Ich glaube, ich kann fliegen. Genauso wie sie.«
»Deine Mom konnte nicht fliegen.« Er balanciert auf dem Geländer und sieht hinab zu dem schlammigen Wasser unter uns. »Was hast du eingeworfen?«
»Eine von ihren alten Pillen.« Ich lehne den Kopf nach hinten und bade mein Gesicht im Regen. »Ich wollte bloß mal sehen, wie es für sie war. Wieso sie gedacht hat, dass sie unbesiegbar ist.«
Er steigt runter auf den Träger, die Arme seitlich ausgestreckt. Seine klobigen Stiefel rutschen auf dem nassen Metall. Blitze zucken über unseren Köpfen, ehe sie zischend auf die Erde prallen.
»Deine Mutter war irre, aber das bist du nicht.« Er hält sich mit einer Hand an dem Stahlseil über uns fest und streckt die andere nach mir aus. »Jetzt komm hier rüber. Du machst mir eine Riesenangst.«
»Ich glaube, ich kann nicht«, antworte ich leise und drehe mich zu ihm um. »Nein, ich denke eher, ich will nicht.«
Er wagt sich einen Schritt näher und blinzelt hektisch durch den strömenden Regen. »Doch, willst du. Du bist ja wohl stärker als eine dämliche Pille.« Seine Hand winkt mich heran. »Bitte, komm einfach hier rüber.«
Als ich runter zum schwarzen Wasser schaue, fange ich an zu schwanken.
»Verdammt noch mal, Ella!«, schreit Micha streng. Seine Muskeln sind angespannt. »Gib mir deine Hand!«
Auf einmal erwache ich aus meiner Trance, und ich schlinge meine Finger um seine. Seine andere Hand packt mich an der Taille, und rasch führt er uns zurück zu dem Geländer. Er hebt mich einfach darüber, sodass ich wieder auf dem Betonboden der Brücke stehe, der voller kleiner und großer Pfützen ist. Die Lichter an den Brückenbögen beleuchten die Nacht. Michas Auto parkt mitten auf der Fahrbahn, mit laufendem Motor, offener Fahrertür und eingeschalteten Scheinwerfern.
Er springt über das Geländer, und dann sind seine Arme um mich, halten mich fest, als würde er nicht wagen, mich loszulassen. Eine Sekunde lang fühlt es sich okay an, schwerelos und frei. Ich drücke mein Gesicht gegen seine Brust. Der nasse Stoff kommt mir warm vor, weil meine Haut so kalt ist. Sein Geruch trägt mich dahin, wo ich so gerne wieder hinmöchte – in meine Kindheit. Da war alles noch unkompliziert, denn ich war viel zu naiv, um zu verstehen, wie das Leben wirklich war.
Micha weicht zurück und streicht mir das nasse Haar aus dem Gesicht. »Mach das nie wieder mit mir. Ich schaffe es nicht ohne dich.«
Aber er muss sein Leben selbst im Griff haben und darf nicht denken, dass er mich braucht. Ich weiß ja gar nicht, wie lange ich durchhalte, ohne zu ertrinken.
»Micha, ich …« Bei seinem Blick verstumme ich.
Er weiß, was ich sagen will – das weiß er immer. Micha ist mein bester Freund, mein Seelenverwandter. In einer idealen Welt voller Rosen und Sonnenschein wären wir zusammen. Doch diese Welt ist voll von kaputten Familien, besoffenen Vätern und Müttern, die zu schnell aufgeben.
»Tut mir leid.« Ich klammere mich an ihn, als ich ihm Lebwohl sage. »Ich wollte nicht mehr denken. Es war einfach zu viel, und meine Gedanken wollten nicht langsamer werden. Aber jetzt ist es in Ordnung. Ich kann wieder klar denken.«
Er legt die Hände an meine Wangen, und seine Daumen fühlen sich heiß an, als sie sanft über meine Wangenknochen streichen. »Das nächste Mal kommst du zu mir und läufst nicht gleich weg. Bitte . Ich weiß, dass es im Moment ziemlich hart ist, aber es wird besser. Wir haben bis jetzt noch jeden Mist überstanden.« Wassertropfen perlen von seinen Lidern, rinnen über seine Wangen und die vollen Lippen. Etwas an der Luft verändert sich, wie ich es schon lange kommen gespürt habe.
Er öffnet den Mund. »Ella, ich liebe …«
Hastig presse ich meine Lippen auf seine, damit er still ist, und dränge mich
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