Das Geheimnis von Turtle Bay
beugte, die wie hingeworfen am Strand lag. Der kurzärmelige, silbriggrüne Taucheranzug umschloss ihre Kurven so eng anliegend, dass er wie auf die nackte Haut gesprüht aussah. Zudem ließ sich ein Muster aus Schuppen und Flossen erkennen, sodass es schien, als seien die Beine der Frau der Schwanz einer Meerjungfrau. Dabei waren es nur ihre Beine … ihre langen Beine. Das schulterlange kastanienbraune Haar klebte an ihrem Kopf, die schlanken Arme hatte sie wie eine Ballerina ausgebreitet. War sie tot?
Da er es nicht wagte, ihren Kopf zu sich zu drehen – womöglich hatte sie beim Zusammenprall mit seinem Boot eine Schädel- oder Wirbelsäulenverletzung davongetragen –, fühlte er zunächst den Puls an ihrem Hals. Die Haut war kühl, Wangen und Kinn waren blass und wirkten wächsern, fast so, als handelte es sich lediglich um eine lebensgroße Puppe. Einen schwachen Puls konnte er zwar fühlen, doch er war sich nicht sicher, ob sie atmete. Behutsam drehte er schließlich ihren Kopf zu sich, damit er ihr Gesicht sehen konnte.
Um ihre Augen herum war der Abdruck einer Tauchermaske zu sehen, aber er erkannte die Frau auf den ersten Blick! Sie war eine der Zwillinge, denen das Bergungsunternehmen Two Mermaids in Turtle Bay gehörte, nicht weit entfernt von seinem eigenen Geschäft. Einmal hatte er mit einer der beiden – Briana – spontan zu Mittag gegessen, als sie die Richardson-Yacht von Muscheln befreite, während er den Salon mit edelstem Mahagoni vertäfelte. Zu der Zeit machte er gerade seine Scheidung durch, und das einzige Date hatte er mit seiner Slup, sonst hätte er sie angerufen, um sich mit ihr zu verabreden. Gott sei Dank, sie lebte noch, doch das würde sich schnell ändern, wenn sie nicht bald wieder atmete.
Ohne sich um den Regen und das Gewitter zu kümmern, zog er die Frau vorsichtig den Strand hinauf, damit sie nicht länger von der Brandung umspült wurde. Über sie gebeugt kauerte er da und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. Das hatte er nicht mehr gemacht, seit er seinen Vater auf dem Fußboden liegend entdeckt und versucht hatte, ihm das Leben zu retten. Damals war er zu spät gekommen.
Aber was war mit dieser Frau geschehen? Sie konnte doch nicht bei diesem Wetter im Golf geschwommen sein. Sie wirkte schlank und zierlich, jedoch wusste er, dass sich dahinter eine starke Frau verbarg. Komm schon, Baby. Komm zurück. Atme. Lass dich von meinen Lippen wärmen, Süße. Komm schon, jetzt komm schon!
Anfangs hatte es ihn amüsiert, dass zwei Frauen in einer so rauen Branche tätig waren, zumal ihr Konkurrent auf der anderen Seite der Bucht ein schroffer Kerl namens Sam Travers mit einem Quasi-Monopol auf Bergungsaufträge in der Gegend war. Doch dann hatte die Zähigkeit der beiden Frauen ihn mehr und mehr beeindruckt. Sie erledigten überwiegend leichte Bergungsaufträge auf dem Meer, keine von den schweren Arbeiten, für die man Schwimmbagger und ähnliches Gerät benötigte. Dennoch war auch ein solcher Job immer mit Gefahren verbunden.
Komm schon, Baby. Ich weiß, du hast es drauf. Lass dir das Leben retten. Komm schon, du süße kleine Meerjungfrau!
Allmählich ergriff ihn Panik, Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, obwohl der Sturm kühle Luft mit sich brachte. Nach einer scheinbaren Ewigkeit bemerkte er, wie sich ihr Mund bewegte. Er unterbrach seine Anstrengungen, hob den Kopf und betrachtete ihr Gesicht, das vom Regen und Meerwasser nass war. Ihre Lider zuckten leicht, sie legte die Stirn in Falten und stöhnte.
„Hey, Briana Meerjungfrau“ , sagte er und kam sich dabei wie ein Trottel vor. Aber ihr Nachname wollte ihm nicht einfallen, und er war sich nicht sicher, welchen der Zwillinge er vor sich hatte. Dennoch sprach er sie mit dem Namen an, der ihm seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, da er so gut zu ihr passte. Der Name erinnerte ihn an das Wort brio , das für ihren Enthusiasmus stand, den er bei dem einen gemeinsamen Mittagessen bei ihr wahrgenommen hatte. Er fühlte sich damals sofort zu ihr hingezogen, sein plötzlich erwachtes Verlangen nach ihr versuchte er zu kontrollieren, indem er sich an diesem Tag übermäßig höflich und witzig gab. „Briana?“ , seine Stimme zitterte. „Briana!“
Sie öffnete die Augen zu einem schmalen Spalt. „Daria?“ Dann begann sie zu husten und Wasser auszuwürgen.
Vorsichtig drehte er sie auf die Seite und legte einen Arm um sie, während er mit der anderen Hand ihren Kopf festhielt, wie seine Mutter es
Weitere Kostenlose Bücher