Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
lassen. Glaube mir, mein liebes Kind, ich habe aus weiser Voraussicht, aus Sorge und Zuneigung gehandelt. Ich habe Dich zu diesem scheinbar wertlosen Kieselstein gemacht, um Dich zu schützen, um Deinen goldenen Kern nicht für jedermann sichtbar zu machen. Denn die Welt ist grausam, mein Kind, und die Menschen morden, meucheln und schlachten einander ab, um das zu beherrschen, was golden glänzt. Ich habe aus Liebe gehandelt und weiß zu gut, dass Du das nie verstehen wirst … mein Kind …
Lucca, im Herbst des Jahres 1373
»Alessandro, Alessandro«, drang es dumpf durch die mit Schnitzereien verzierte Holztür, »jetzt wach auf …!«
Mühsam öffnete der Jüngling die Augen und sah – überhaupt nichts. Stockdunkel und kalt war es im Zimmer. Wie so oft in Italien kühlte es im Herbst über Nacht bereits empfindlich ab, und der große Palazzo wurde jetzt noch nicht geheizt. Frierend wickelte er sich in seine Seidendecke und kuschelte sich in die Matratze des großen Himmelbettes.
»Alessandro, die packen schon auf, jetzt komm doch!« Mit einem leisen Knarren öffnete Ella, die Tochter des Hausknechts, die Tür und trat mit einer Kerze an das Bett des Jünglings.
Da wurde dieser plötzlich hellwach, sprang auf die Füße und schrie:
»Ella, raus aus meiner Kammer, jetzt reicht es!«
Kichernd drehte sich das Mädchen um und lief eilends aus dem Zimmer. Sicherheitshalber ließ sie die Kerze auf einer Truhe stehen. Im Hinauslaufen schrie sie noch: »Pass auf deine Beinkleider auf, Alessandro, in Wien ist es noch sehr viel kälter als hier, du könntest dir dort wer weiß was holen.«
Erschrocken sah der junge Mann, dass sich der Gürtel seiner weiten, langen Brouche gelöst hatte und er halbnackt neben dem Bett stand. Hektisch zog er die Unterhose wieder an ihren Platz. Als er sich überzeugt hatte, dass das Mädchen verschwunden war, machte er Anstalten, wieder unter die verlockend warme Decke zu kriechen. Da hörte er von der Piazza di San Michele das Wiehern der Pferde und das Klirren der Ketten und Zaumzeuge. Dazwischen waren immer wieder die Kommandorufe der Kaufleute zu hören. Keine Frage, ganz Lucca war da draußen und wollte dabei sein, wenn der Patriarch von Aquileia seine weite Reise über die Alpen nach Augsburg, Regensburg und letztendlich nach Wien antrat. Dumm nur, dass er darauf bestand, seinen Großneffen Alexander von Randegg mitzunehmen, der seiner Geburtsstadt Augsburg einen Besuch abstatten und dort den Winter verbringen sollte. Aber wie sollte Alexander seinem Onkel erklären, dass er sich hier mehr als wohlfühlte, die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten dieses vornehmen Haushaltes über die Maßen genoss und ihm sein Sinn überhaupt nicht danach stand, nördlich der Alpen in Augsburg zu verweilen! Schon gar nicht, nachdem er über die Hälfte seines noch jungen Lebens in Lucca zugebracht hatte. Und wie sollte es der altehrwürdige Patriarch verstehen, dass sein Mündel Besseres vorhatte, als jetzt im Herbst, wo der Winter schon an die Tür klopfte, die Alpen zu überqueren, um nach einigen Aufenthalten im Frühjahr bei einer Wiener Fürstenhochzeit dabei zu sein. Außerdem würden seine Verwandten in Augsburg nur mehr Fremde für ihn sein, wilde, stinkende und Blutwürste verschlingende Barbaren … So jedenfalls schilderten seine Freunde aus den wohlhabenden Familien, die bereits eine Reise in den Norden hinter sich hatten, die Menschen jenseits der Alpen. Alexander schüttelte sich angeekelt. Was dachte sich sein Oheim nur?
Alexander wollte den Frühling in der Toskana erleben, das Treiben auf der Piazza del Mercato und auf der Via Fillungo, wenn die ersten wirklich warmen Sonnenstrahlen lachten, das Zwitschern der Vögel, der Blick auf die Stadt von einem der Wohntürme … Und vor allem den goldenen Herbst mit all den Festlichkeiten, der Weinernte, den Lustbarkeiten und Gaumenfreuden wollte er ja auch überhaupt nicht versäumen.
Außerdem: Man erzählte sich haarsträubende Geschichten aus dem kalten Norden. Derb sollten die Leute dort sein, nicht so elegant wie hier, die niederen Hütten stinkend von Sauerkraut und Kohlsuppe, keine Geflügelpastete weit und breit, Hopfenvergorenes wurde getrunken, kein samtener Schluck Rotwein.
Doch im Innersten wusste Alexander, dass er sich dem Wunsch des Onkels beugen und mit ihm ins Land seiner Väter ziehen musste. Einerseits war er es ihm schuldig, war doch der Oheim nach dem Tod seiner Eltern Mutter und Vater gleichzeitig für
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