Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
Weg über die Alpen schon so oft gegangen, zu jeder Jahreszeit – und ich bin jedes Mal sicher dort angekommen, wohin ich wollte. Ich habe unseren Kaiser bei der ersten Romfahrt begleitet, das war vor 24 Jahren und ich sage dir, das war damals viel gefährlicher als heute. Wir kamen von Norden, daher war der Abstieg besonders steil, weil die Alpen nach Süden hin schroff abfallen. Die Pferde rutschten gefährlich, wir haben viele Tiere verloren, und die Damen …«, hier grinste der alte Mann, »die setzten wir kurzerhand auf Tierhäute und ließen sie eine Rutschpartie machen. An Reiten war da nicht zu denken.«
Ein Seitenblick auf Alexander sagte ihm, dass sich der Junge noch nicht beruhigt hatte und verdächtig oft blinzelte. Wahrscheinlich, um ganz und gar unmännliche Tränen hintanzuhalten. Also erzählte er einfach weiter.
»Ein Jahr später habe ich in Pisa den Aufstand niedergeschlagen, du weißt doch, davon habe ich dir oft erzählt, als du besonders spannende Geschichten hören wolltest!« Fragend sah der Patriarch auf seinen Neffen, der unmerklich nickte, aber noch immer sehr traurig war. Mit leiser Stimme antwortete der Jüngling:
»Ja ich weiß noch, das war damals, als du dir die drei schweren Wunden zugezogen hast, eine an der Schulter und zwei am rechten Bein, deswegen brauchst du auch diesen eigentümlichen Sattel, weil du dein Bein nicht ganz strecken kannst.«
»Was du dir alles merkst, mein Sohn …«, wunderte sich der Alte.
»Aber das war doch meine liebste Heldengeschichte damals …«
»Und welche Geschichten hörst du heute gern?«
Das Schweigen des Jünglings dauerte so lang, dass Bernhard schon glaubte, Sander hätte ihn nicht gehört. Doch dann sprach sein Neffe beherrscht und bedacht:
»Ich würde gern von den Weinbergen rund um Lucca hören, wenn sich das Licht in den grünen Blättern bricht, von unseren weiten Mohnwiesen, die sanft im Wind schaukeln, von den weißen Rindern, den rosenumrankten Brunnen, von den Bauern, die altes Geäst in den Olivenhainen zusammentragen. Vom ersten Frühjahrsgrün kannst du mir erzählen, den weidenden Schafen, vom strahlend gelben Raps, von den Erlen und Zypressen … Erzähle mir dann davon, wenn wir durch den Schnee reiten, wenn mich der Mut verlässt, wenn ich nicht mehr weiter, sondern nur mehr nach Hause möchte …«
Erstaunt und berührt betrachtete der Patriarch sein Mündel. Unter dem breitkrempigen Reisehut sahen ein paar karamellbraune Haarsträhnen hervor, die Sommersprossen und die braunen Augen dachte sich Bernhard dazu und musste sich eingestehen, dass Alexander ein Kind der südlichen Sonne, der warmen Winde, des klaren Meeres geworden war. Nichts mehr deutete auf den blassen, dünnen Knaben hin, den man ihm vor zehn Jahren aus Augsburg nach Pisa gebracht hatte.
»Ich wusste nicht, wie tief deine Empfindung für dieses Land ist«, sagte der Onkel und dachte bei sich: »Eigentlich habe ich angenommen, dass du das bequeme Dasein im Palazzo ducale genießt, deine Freiheiten, dein Leben im Luxus.« Er wollte den Zauber des Augenblicks nicht mit seichten Andeutungen verderben.
Beide blickten sich an, und Alexander flüsterte fast.
»Ja, du hast recht. Mein Leben hier ist dank dir sehr bequem und abwechslungsreich. Ich kann an einem Tag meist zwischen drei oder vier Zerstreuungen wählen, seien es Einladungen, sei es eine Bootsfahrt, die Jagd, was immer. Aber es gibt viele Dinge, die ich an dem Land und den Menschen hier bewundere. Und weißt du, werter Onkel, ich bin nicht dumm, ich habe schon erkannt, was ich hier habe.«
Der Patriarch nickte seinem Neffen zu, um dann eine ganze Weile in Schweigen zu verfallen. Nur der regelmäßige Hufschlag der Pferde, das gedämpfte Rufen der Kaufleute, das Lachen und Scherzen der Panzerreiter drangen an das Ohr der beiden. Nach einer Weile berührte Bernhard den Ärmel seines Neffen. Als dieser sich ihm wieder zuwandte, sah er in den blauen Augen seines nun schon so alten Vormundes echte Anteilnahme.
»Mein Sohn, wenn du wirklich willst, dann kehrst du wieder zurück nach Lucca. Sander, wenn du dein Herz an dieses Land verloren hast, dann wirst du nicht eher ruhen, bis du wieder hier leben darfst. Ich weiß das, denn mir ging es anderswo genauso, vor langer, langer Zeit. Aber bitte sei mir nicht gram, ich kann dich nicht ein Leben lang im goldenen Käfig zu Lucca halten. Das hätten beide, meine Schwester und meine Nichte, also deine Großmutter und deine Mutter, nicht gewollt. Du
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