Das Geloebnis
den Kopf nicht, während sie dalag.
»Ich bin tot«, dachte sie. »Dies ist das Ende. Ich werde nie wieder auf meinen Füßen stehen, kein Wort mehr sprechen. Diese Gedanken sind jetzt das letzte.«
Sie fühlte ihr Hirn lebendig und beherrschend, bereit, diesen Augenblick des Todes zu überleben. »Ein gutes Gehirn«, dachte sie, »es war ein gutes Gehirn.«
Auch ihr Leib war zitternd lebendig, und sie fühlte das Blut glatt durch ihre Adern rinnen, fühlte ihre geschmeidigen Muskeln und ihre starken Knochen. Noch nie war sie so lebendig gewesen wie jetzt, da sie auf den raschen Tod wartete, der sie für immer auslöschen würde. »Ich wünschte, ich hätte Sheng geheiratet«, dachte sie leidenschaftlich. »Ich wünschte, ich hätte ihm wenigstens einmal angehört – welche Vergeudung, all diese Monate allein gelebt zu haben!«
Solche Gedanken bewegten sie, und sie dachte an nichts anderes, denn sie war sicher, daß sie sterben mußte. »Sheng, Sheng!« dachte sie. »Mein Leib vergeht nun, ohne gelebt zu haben.« Und dies bekümmerte sie am meisten, während sie des Todes harrte.
Aber der Tod kam nicht zu ihr. Die Gegner zogen ab, und sie lag noch immer lebendig auf einem Totenacker. Der Lärm verebbte, die Flugzeuge entfernten sich unter Widerhall am Himmel, und dann hörte sie sie nicht mehr. Die Schlacht hier war vorbei, und die Sonne ging auf, wie sie es von jeher getan. Sie hob den Kopf und sah, daß der Tod rings um sie war; sie aber, sie lebte. Sie kam auf die Füße und stand da, klein und verloren, weil sie lebte und alle diese andern tot waren. Eine Weile stand sie so und blickte rings um sich auf die gekrümmten Gestalten, auf die Zerfetzten, die Blutenden, die Verletzten, die Sterbenden. Da waren auch ihre Frauen, im Schlaf getötet. »Ich hätte sie doch wecken sollen!« schrie sie auf. Blind und elend drehte sie sich um und lief taumelnd und stöhnend zum Urwald.
Sosehr sie sich auch bemühten, es gelang Sheng und seinen Gefährten nicht, den Feind zu umgehen, denn die Gegner bewegten sich mit ihren Fahrzeugen rascher, als Menschenfüße laufen konnten.
Als sie schließlich an eine Stelle gelangten, wo der Feind gewesen war, da fanden sie nur Tote, die an der Sonne und unter den plötzlichen Regengüssen, die alle paar Stunden niedergingen, verwesten. Dem Auge schien es, als wäre niemand entkommen. Sie fanden den General tot. Bäuchlings lag er vor seinem Zelt, wie er umgesunken war. Die Gegner hatten gerade so lange verweilt, um sich seine Waffen und Rangabzeichen anzueignen. Sheng hob ihn auf, drehte ihn um, und da war er.
Doch wie konnte er um diesen einen trauern? »Wo sind die Frauen?« sagte er leise zu Charlie. »Unter ihnen befand sich eine, die ich kannte …«
»Wirklich?« gab Charlie zurück. »Es war auch eine darunter, die ich kannte.«
Die beiden Männer blickten einander auf diesem Totenacker an. Die Gegner waren fort, nordwärts gen Lashio gefegt, um die Große Straße nach China abzuschneiden. Vor dem Feind waren sie sicher, wer aber konnte sie jetzt vor dem Kummer bewahren? Es dünkte Sheng, daß er Maylis Namen aussprechen mußte, nur um sich von der Furcht zu befreien, und so bemerkte er zu Charlie: »Ich meine die Große mit dem Geschlechtsnamen Wei, genannt Mayli.«
»Die?« rief Charlie, und einen bösen Augenblick lang glaubte Sheng, daß er und Charlie dieselbe Frau liebten. Aber Charlie fuhr rasch fort: »Und die ich kenne, ist ein kleines Ding, fast noch ein Kind. Sie folgt Mayli die ganze Zeit wie ein Hündchen.«
»Oh, das ist meine Schwester!« schrie Sheng. »Das ist Pansiao.«
»Ist Pansiao deine Schwester?« rief Charlie.
Da ergriffen die beiden jungen Männer angesichts des Todes rings um sie einander bei der Hand und ließen die Tränen in ihre Augen kommen. Jeder wollte dem andern etwas sagen, aber der Engländer sprach zuerst.
»Was habt Ihr jetzt vor? Was nun, frage ich? Hoffentlich erkennt Ihr jetzt, daß ich recht hatte – wir hätten geradewegs nach Indien gehen sollen.«
Was konnten Sheng und seine Gefährten anderes tun, als sich in den Urwald begeben, um dem Geruch des Todes zu entgehen, so daß sie in der Lage waren zu überlegen, was für Schritte sie unternehmen wollten? Doch brachte es weder Sheng noch Charlie über sich, die Toten zu verlassen, bevor sie nicht allenthalben umhergegangen waren, um nachzusehen, ob Mayli und Pansiao sich nicht darunter befanden. Viele entdeckten sie, die sie kannten, aber wie hätten so wenige all die
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