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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geöffnetes Fenster im Erdgeschoß drangen die Gerüche und Laute der Backstube.
    Wesener klopfte an eine Tür, wartete aber nicht, bis jemand Antwort gab. Er öffnete und ging hinein, ohne mir den Vortritt anzubieten.
    Ich hatte kaum einen Fuß in den Flur gesetzt, als uns eine Frau entgegentrat. Sie war dunkelhaarig und reizlos, abgesehen von ihren klaren blauen Augen. Ihr Atem ging schnell, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Sie war gerade erst eine enge Wendeltreppe herabgelaufen.
    »Herr Doktor«, empörte sie sich, »ich hab’ Ihnen tausendmal gesagt, Sie sollen warten, bis ich aufmache.«
    »Dies ist Herr Brentano«, stellte Wesener mich ungerührt vor. »Gertrud Emmerick, die Schwester des Fräuleins.«
    Die Frau bedachte mich mit einem langen Blick.
    Der ablehnende Ausdruck in ihren Augen blieb unverändert.
    »Sind Sie Italiener?« fragte sie argwöhnisch.
    »Mein Vater stammte aus Italien«, gab ich zurück und zog den Zylinder vor ihr. »Meine Mutter war eine Deutsche wie Sie.«
    »Sie sehen aus wie ein Italiener.«
    »Danke, Aladame. Das sagt man mir oft.«
    »Sie sprechen unsere Sprache«, stellte sie fest.
    »Wie ich schon sagte, Madame, meine Mutter war…«
    »Ja, ja.« Sie winkte ab und wandte sich an Wesener. »Meine Schwester will heute niemanden sehen.«
    »Entschuldigen Sie«, meinte Wesener unbeeindruckt, »aber das würde ich gerne von ihr selbst hören.«
    »Sie trauen mir nicht?«
    Wesener gab keine Antwort, und ich begriff, daß sich diese Szene tagtäglich abspielen mußte. Das einfältige Weib legte es darauf an zu beweisen, wer hier das Sagen hatte. Ein undankbares Frauenzimmer, zumal in Anbetracht der Tatsache, daß Wesener ihre Schwester seit Jahren kostenlos behandelte.
    Der Doktor schob die Frau sachte, aber unnachgiebig beiseite. »Folgen Sie mir, Herr Brentano.«
    Ich nickte Gertrud im Vorbeigehen noch einmal zu, jetzt mit meinem galantesten Lächeln, doch auch dieser Versuch blieb ohne Wirkung.
    Wir stiegen die Wendeltreppe hinauf. Gertrud blieb zurück.
    Im ersten Stock öffnete Wesener eine Tür, schaute vorsichtig hinein und flüsterte: »Ihr Gast ist da, Fräulein Emmerick.«
    Eine helle Stimme erwiderte etwas, aber ich konnte die Worte nicht verstehen.
    Wesener schaute mich an und drückte die Tür vollends auf.
    »Bitte, treten Sie ein.«
    Ich stellte meine Reisetasche auf der Treppe ab, legte Zylinder und Stock obenauf und trat dann an Wesener vorbei ins Zimmer.
    Ich hatte einen schlechten Geruch erwartet, irgendeinen schleichenden Gestank, jahrelanger Krankheit angemessen.
    Statt dessen aber war die Luft hier drinnen so rein wie auf freiem Felde, gläsern klar unter einem aufziehenden Gewitterhimmel.
    Die Kammer war erschreckend klein. Verästelte Risse überzogen die weiß gekalkten Wände wie der Schatten einer Baumkrone. Unter einem Fenster, gleich neben einer hölzernen Gebetbank, stand ein Bett aus Korbgeflecht; es hatte die Form einer Krippe. Daneben hingen an der Wand ein paar Heiligenbilder. Auf der Bank stand ein gekreuzigter Heiland aus hellem Holz. An der anderen Seite des Raumes befand sich eine schwere Kleiderkiste, groß genug, um den Besitz einer Familie darin unterzubringen.
    Schwester Anna – das Fräulein Emmerick, wie Wesener sie immer nur nannte – saß mit angelehntem Oberkörper in ihrem Korbbett und schaute mir entgegen.
    »Guten Tag«, sagte sie mit freundlicher Stimme.
    Meine Kehle war sekundenlang trocken und rauh, wie vom Blättern in einem uralten Buch, aus dem sich einem der Staub der Jahrhunderte entgegenwölkt.
    Sie trug ein weißes Nachthemd, züchtig bis zum Hals geknöpft. Eine weiße, gewickelte Haube bedeckte enganliegend ihren Kopf und reichte hinab bis in die Stirn.
    Dunkelbraunes, sehr kurzgeschnittenes Haar schaute im Nacken darunter hervor. Ihr schmales, zartes Gesicht wurde von großen blauen Augen beherrscht. Darüber bogen sich die dichten Brauen wie Halbmonde. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, Spuren ihres langen Leidens.
    Ich machte einen Schritt auf sie zu und streckte ihr zögernd die Hand entgegen. »Guten Tag.«
    Sie blickte mit mildem Lächeln auf meine Finger und deutete ein Kopfschütteln an.
    Wesener war sofort neben mir. »Fräulein Emmerick kann Ihnen keine Hand geben.«
    »Oh, verzeihen Sie.« Das Mißgeschick war mir peinlich. Die Geste war unbedacht gewesen, aber der Doktor schien sie gleich als Versuch einer List mißzuverstehen. Er glaubte wirklich, ich sei hergekommen, um diesem Schwindel ein Ende zu

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