Das Gelübde
Dornenmale wieder verbarg, zog Wesener widerwillig Annas Nachthemd unter der Decke nach oben. Er schob es so weit herauf, bis ein breiter Hautstreifen zwischen Annas Bauchnabel und ihren flachen Brüsten bloßlag. Ihr Körper war sehr weiß und sehr eingefallen, die Rippen sahen aus wie Leitersprossen. An ihrer linken Seite befand sich ein blutiger Schnitt, etwa so lang wie mein Zeigefinger.
»Wie von einem Stoß, der von unten nach oben geführt wurde«, sagte Wesener.
Annas Stimme klang sehr weit entfernt. »Der Lanzenstich, den Jesus am Kreuz empfing.«
»Hinzu kommen diese Male«, sagte der Arzt und deutete auf drei kleinere, kreuzförmige Wunden. Die erste war deutlich über dem Herzen zu erkennen, die beiden anderen oberhalb des Brustbeins. Ich hatte kaum hingesehen, da zog Wesener das Nachthemd schon wieder herunter und verpackte Anna fürsorglich in ihre Decke.
»Das ist barbarisch«, preßte ich hervor.
»Sie haben noch nicht alles gesehen«, gab der Doktor zurück.
»An manchen Tagen erscheinen blutige Striemen auf dem Rücken des Fräuleins, wie Spuren einer Geißelung.«
»Ich empfange sie nur, wenn ich Gott bitte, daß er die Sünden anderer Menschen vergibt.« Anna öffnete die Augen; sie blickten unvermittelt in meine Richtung, als hätten sie mich während der ganzen Zeit sogar durch die geschlossenen Lider beobachtet. Ihr ozeanisches Blau schlug mich abermals in ihren Bann.
Auch Weseners Blick gewann an Eindringlichkeit.
»Wir haben es zudem mit einem schweren Herzleiden zu tun, einer gequetschten Hüfte und den gelähmten Mittelfingern beider Hände.« Sein Tonfall wurde härter, zorniger. »Sind Sie immer noch der Ansicht, daß es sich hier um eine Betrügerin handelt?«
Erschrocken kreuzte ich Annas Blick, doch in ihren Augen war nur diese ewige, unverzagte Güte, die sie selbst unter größten Schmerzen nicht verlor.
»Sie müssen sich nicht schämen, Pilger«, flüsterte sie, als wäre es ihr Wunsch, daß nur ich allein ihre Worte verstand.
»Vertrauen Sie mir.«
Und während ich betroffen um eine Antwort rang, schloß sie wieder die Augen, wandte den Kopf zum Fenster und wisperte so leise wie der Flügelschlag einer Nachtigall:
»Irgendwann werden Sie alles glauben.«
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3
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Im Jahr meiner Ankunft in Dülmen war das Schicksal der Anna Katharina Emmerick bereits im ganzen Land bekannt.
Viele kamen, um sie zu sehen, aber nur wenigen wurde vom Triumvirat ihrer Beschützer der Zutritt gestattet. Doktor Wesener fürchtete vor allem um den körperlichen Zustand seiner Patientin, während Pater Limberg ihr geistliches Wohl am Herzen lag; der alte Abbé Lambert war schon während ihrer Jahre im Kloster Agnetenberg ihr Fürsprecher gewesen und liebte sie wie sein eigenes Kind. Als das Kloster der Augustinerinnen seine Pforten schließen mußte, war es der Abbé gewesen, der der jungen Frau eine neue Bleibe besorgte.
Ihm verdankte sie alles.
Auch bei meinem Bruder hatte der Abbé einen
hervorragenden Eindruck hinterlassen. So sah ich einer Begegnung mit ihm voller Hoffnung entgegen. Er schien, obgleich ein Mann der Kirche, am ehesten um Anna als Mensch bekümmert. Für ihn war sie kein Wunder der Medizin, auch kein Altar fieberhafter Frömmigkeit. Er sah in ihr eine Tochter, deren Wohl ihm höchstes Ziel war.
Ich wollte so schnell wie möglich mit dem Abbé in Verbindung treten, und so ärgerte es mich, daß ich bei meinem überstürzten Aufbruch vom Krankenbett nicht gefragt hatte, wo er zu erreichen sei. Aber, so sagte ich mir, ich wollte ohnehin zwei, drei Tage in Dülmen verweilen und Anna noch mindestens einen weiteren Besuch abstatten. Genug Zeit, um ihn ausfindig zu machen.
Ich bezog ein Fremdenzimmer im Gasthaus am Markt. Es war klein, aber reinlich, abgesehen von ein paar getrockneten Blättern, die wohl beim Lüften der Kammer hereingeweht waren. Sie zerbrachen in Hunderte winziger Laubsplitter, als ich sie von den Dielen hob. Ich rieb mir die Hände sauber und ließ die Blätterreste am Boden liegen.
Anschließend nahm ich meine Hemden aus der Tasche und legte sie auf dem Ankleidetisch säuberlich übereinander, so wie Sophie es früher getan hatte, wenn wir auf Reisen waren.
Arme, traurige Sophie. Sie war gestorben, als sie unser drittes Kind gebar. Das Kleine war wie seine beiden Geschwister tot zur Welt gekommen.
Dreizehn Jahre waren seither vergangen. Vielleicht ein halbes Leben.
»Du bist ein Dämon, Clemens«, hatte Sophie einmal zu mir gesagt. »Du bist
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