Das Gesamtwerk
Autor auch auftrat, seiner Stilmittel war er sich sicher.
Die Probleme einer gesicherten Textfassung zeigen sich gerade an Borcherts berühmtestem Werk «Draußen vor der Tür». Ein Manuskript existiert nicht, auch keine Vorstufen oder Notate. Gleich nach der Abschrift gelangte der Text, noch unter dem Arbeitstitel «Ein Mann kommt nach Deutschland», über eine Lektorin an Ernst Schnabel, den Hörspiel-Dramaturgen beim NWDR, der es sofort zur Produktion annahm. Nach der Sendung meldete sich aus dem dänischen Fåborg Bernhard Jolles, der seine Hilfe als Vermittler und Übersetzer anbot. Borchert reagierte hocherfreut und schrieb ihm am 5. März 1947, er werde ihm selbstverständlich ein Manuskript zusenden, verfüge aber im Augenblick über keines: Ein Exemplar liege bei den Kammerspielen in München und die beiden anderen bei zwei Theaterverlagen, außerdem müsse er erst die Genehmigung der englischen Besatzungsbehörden einholen, weil Deutsche nichts ins Ausland schicken dürften. Borchert konntebeim Funk noch ein Exemplar bekommen, das er nach Dänemark weitersandte. Am 24. März bekam der Kranke Besuch von Ernst Rowohlt, damit war die Entscheidung über die Publikation von «Draußen vor der Tür» gefallen. Am 23. April teilte Borchert Jolles mit: «Die Hamburger Kammerspiele haben es zur Uraufführung angenommen und der Rowohlt Verlag übernimmt es in seinen Bühnenvertrieb. Außerdem hat es eine im Entstehen begriffene Filmgesellschaft zur Verfilmung erworben. Das heißt, es geht nun über alle deutschen Bühnen und wird allerlei Unruhe machen. Ich schicke Ihnen nun nächste Woche eine Originalfassung, denn Ihr Exemplar ist von mir selbst für den Funk bearbeitet.» Dieses Exemplar kehrte 1967 wieder nach Hamburg zurück, es befindet sich im Wolfgang-Borchert-Archiv in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg. Es handelt sich um ein hektographiertes, auf Wachsmatrize abgezogenes Typoskript, wobei oftmals die letzten Zeilen am unteren Rand des Blattes mit Schreibmaschine ergänzt werden mussten; auf dem Titelblatt hat Borchert handschriftlich ergänzt: «Sämtliche Rechte E. Rowohlt Verlag». Dieses Exemplar diente für die vorliegende Ausgabe als Druckvorlage.
Das vom Rowohlt Verlag im Juli 1947 publizierte Bühnenmanuskript, dem der Abdruck im 1949 erschienenen «Gesamtwerk» folgt, weist eine Reihe von kleineren Änderungen auf, meist stilistischer Natur. Es handelt sich um Verdeutlichungen, Glättungen: aus «einfach Beckmann» wurde «einfach nur Beckmann», aus «nicht mehr kennen» «nicht mehr erkennen» etc. Daneben gibt es Schreibfehler. Am Anfang der 1. Szene sagt Beckmann: «Du bist der Andere von der Schulbank, von der Eisenbahn?» In der «Originalfassung» steht «Eisbahn». Ein Schreibfehler, gewiss – aber: im ersten oder im zweiten Typoskript? Zieht manzur Entscheidung den Hörspieltext zu Rate, entdeckt man auf der entsprechenden Seite sowohl «Eisbahn» wie «Eisenbahn» … Ein anderer minimaler Eingriff bedeutet eine wesentliche Akzentverschiebung. Am Schluss richtet sich Beckmann in der tradierten Fassung an Gott: «Warum redet er denn nicht!», während in der Ursprungsfassung es «ihr» heißt; neben dem alten Mann werden auch alle anderen, denen der Heimkehrer begegnet ist, angesprochen.
Die von Borchert selbst vorgenommene Einrichtung des Textes als Hörspiel weist neben den notwendigen Kürzungen und Straffungen auch einige Änderungen auf, die im Editorischen Bericht als Varianten dokumentiert sind. Politisch bemerkenswert ist der Eingriff in der Kramer-Szene, wo der Selbstmord der Eltern Beckmanns neu motiviert wird. Im Theaterstück haben sie, die sich durch antisemitische Äußerungen in der Nazi-Zeit exponiert haben, sich «selbst entnazifiziert». Dies war ein tabuisiertes Thema. «Kaum sonst irgendwo in der deutschen Literatur dieser Jahre treibt die unbewusste Abwehr des Themas so deutlich und verquer zugleich an die Oberfläche», hat aus dem historischen Abstand Volker Hage diese Szene 2005 kommentiert. Umso befremdlicher muss sie 1947 gewirkt haben. Es ist nicht bekannt, ob Borchert die Textpassage auf Wunsch des Senders, der noch unter Kontrolle der britischen Besatzungsmacht stand, entschärfte. In der Version für den Funk sind die Eltern in den Tod gegangen, weil der alte Beckmann seine Arbeit auf der Werft Blohm & Voss verloren hat – er hat sich selbst «pensioniert». Auch die neue, schwächere Motivation ihres Selbstmords hatte
Weitere Kostenlose Bücher