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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk
Autoren: Wolfgang Borchert
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Er strich sich mit dem Mittelfinger über den schmalen verrosteten Schnurrbart, wischte sich dann eine gelachte Träne aus den kurzen Bürstenwimpern und sagte: «Na, dann bis heute abend. Will mal einen kleinen Gang in meinen Stadtteil machen. Bis nachher also.» Dann trat er mit seiner großartigen Laune und mit seinem Stolz vor die Tür.
    Einen Augenblick lang freute er sich über den See, der mitten in dieser verrückten Stadt lag, in der es Stadtteile gab, die so hießen wie anständige Leute aus Hopedale in Kanada. Die so hießen wie er. Das war schon eine Stadt, mit einem so feinen See mitten im Bauch, die sowas fertigbrachte. Er schnupperte. Oh, es roch nach Wasser. Salzwasser, schmeckte er. Allerhand, diese Stadt, dachte er und drehte sich um. Er sah nach der wolkigen Sonne, nach der grauen Hamburger Sonne. Dann ging er los. Das ist meine Richtung, sagte er, Ost-Süd-Ost. Und er machte frohe feste Schritte.
    Der Nachmittag war warm und goldgrau. Die grauenHamburger Wolken hingen am Himmel. Bill Brook marschierte mit der goldgrauen Sonne im Rücken und mit guter großartiger Laune nach Südosten. Nach einer Stunde nahm er seine Karte aus der Tasche. Er verglich den bisher zurückgelegten Weg mit dem, der noch vor ihm lag. Zwei Stunden würde er noch gehen müssen. Er hatte sich getäuscht. Man kam in einer fremden Stadt nicht so schnell vorwärts, wie man wollte. Der Stadtplan verschwand in der Tasche und er sah wieder nach Südosten. Er atmete das gute Goldgrau eines Hamburger Sommertages.
    Aber dann merkte er, daß sein Stolz abtrudelte wie ein abgeschossenes Flugzeug. Nicht plötzlich. Langsam abtrudelte. In großen Kurven. Und seine großartige Stimmung fing an abzubröckeln wie ein eingetrockneter Kuchen. Er blinzelte zurück in die Sonne. Sie war so goldgrau wie vorher. Er überlegte. Ich bin müde, dachte er. Er nahm eine Zigarette. Natürlich, dachte er, müde bin ich. Das ist alles. Und außerdem ist es ungewohnt für mich, so lange zu Fuß zu gehen. Wann bin ich denn zuletzt eine Stunde zu Fuß gegangen? Zu Hause vielleicht. Ja, höchstens zu Hause. Vor ein paar Jahren. Er schoß den Rest seiner Zigarette wie einen glühenden kleinen Fußball mit der Schuhspitze über das Pflaster.
    Aber daß er müde war, das war es nicht. Nein, das nicht. Aber das war es: Bis vor kurzem war er durch Straßen gekommen, in denen Menschen wohnten. Hin und wieder hatte mal eine Hausecke gefehlt, war ein Block ausgebrannt oder zusammengestürzt, war ein Vorgarten umgepflügt, ein Balkon verrückt, ein Dach abgedeckt. Aber die Straßen in diesem Teil der Stadt sahen noch wie Straßen aus, ein bißchen ramponiert, ein wenig wackelig und zerklirrt, aber es waren doch Straßen und es wohnten Menschen links und rechts. Es bellten Hunde in den Straßen zwischen den Bäumen. Es schrien Kinder in den Torwegen und Treppenhäusern,auf Vorplätzen und Hinterhöfen, Kinder, die juchten und schluchzten. Frauen klopften Teppiche in den Straßen, riefen aus den Fenstern, Kutscher schimpften und Mülleimer stanken in diesen Straßen. Mädchen kicherten und Jünglinge pfiffen in diesen Straßen, durch die Bill Brook, der kanadische Fliegerfeldwebel aus Hopedale am Atlantischen Ozean, gekommen war. Links und rechts wohnten Menschen in diesen Straßen, sangen Mädchen beim Fensterputzen, rollten Kanarienvögel lange Roller auf i und ü, es klingelten Radfahrer und Milchflaschen in diesen Straßen, Autos bremsten, keuchten, hupten und in einem Haus zerhackte jemand Mozart auf dem Klavier und man hörte bis auf die Straße, wie eine spitze Altfrauenstimme zählte und mit einem harten Gegenstand den Takt dazu schlug. Bisher hatten Menschen in den Straßen links und rechts gewohnt und die Straßen waren noch richtige Straßen gewesen. Richtige Straßen, wie es sie in Hopedale auch gab. Oder in Ottawa. Oder in Quebec. Aber seit einer halben Stunde war es immer stiller geworden. Immer weniger Menschen wohnten links und rechts in den Häusern und es standen immer weniger Häuser links und rechts von der Straße. Die Kinder, die Hunde und die Autos wurden seltener, immer seltener. Nur der zerhackte Mozart wehte noch zum Hohn durch diese plötzliche Stille. Das Leben wurde immer weniger, seltener, leiser. Dann blieb es ganz weg, kam kaum angedeutet für ein paar hundert Meter wieder, blieb dann doppelt so lange aus, kleckerte sich noch mal mit ein paar Häusern einige Schritte neben der Straße entlang, seltener, weniger. Immer leiser, leiser.
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