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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk
Autoren: Wolfgang Borchert
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Immer leiser wurde das Leben.

    Er stand an einer großen Kreuzung. Er sah zurück: Kein Kind? Kein Hund? Kein Auto? Er sah nach links: Kein Kind. Kein Hund. Kein Auto. Er sah nach rechts und nach vorn:Kein Kind und kein Hund und kein Auto! Er sah die vier endlosen Straßenzüge entlang: Kein Haus. Kein Haus! Nicht einmal ein Häuschen. Nicht einmal eine Hütte. Nicht einmal eine vereinsamte, stehengebliebene, zittrige, wankende Wand. Nur die Schornsteine stachen wie Leichenfinger in den Spätnachmittagshimmel. Wie Knochen eines riesigen Skelettes. Wie Grabsteine. Leichenfinger, die nach Gott griffen, die dem Himmel drohten. Kahle, magere, gekrümmte angegangene Leichenfinger. Welche der vier Richtungen er entlang sah, und er hatte das Gefühl, er könne in jeder Richtung der Straßenkreuzung kilometerweit sehen: Kein Lebendiges. Nichts. Nichts Lebendiges. Milliarden Steinbrocken, Milliarden Steinstücke, Milliarden Steinkrümel. Gedankenlos vom gnadenlosen Krieg zerkrümelte Stadt. Milliarden Krümel und einige hundert Leichenfinger. Aber sonst kein Haus, keine Frau, kein Baum. Totes nur. Zerstörtes, Zerfallenes, Zerborstenes, Zerwühltes, Zerkrümeltes. Totes nur. Totes. Kilometerweit, kilometerbreit Totes. Er stand in einer toten Stadt und er schmeckte es fade und übel auf der Zunge. Er war nicht mehr stolz. Seine großartige Stimmung war hinten, oh ganz hinten, bei den letzten Kindern, bei dem letzten Hund und bei den letzten Autos liegengeblieben. Auch die Luft ist hier gestorben, dachte er. Er fühlte die Leichenfinger um seine Brust geklammert. Es war so still und er wagte nicht zu atmen.
    Er nahm seinen Stadtplan, er hielt ihn fest in der Hand und es war ihm, als hielte er sich daran fest. Er sah nach der Sonne, die schon ganz flach und goldstaubig im Dunst der fernen Stadt lag. Er sah ganz dünn die Türme der Kirchen. Sie sind nicht wahr, sie sind gelogen, dachte er. So nah waren die Leichenfinger, so eng umstanden sie ihn. Nur die Leichenfinger sind wahr, und die Krümel. Die sind nicht gelogen.
    Er nahm sich vor, die Stunde, die er noch nach hatte, doppelt schnell zu gehen. Er ging mitten auf der Straße. Das heißt, er mußte nun mitten auf der Straße gehen, denn die zusammengefallenen, auseinandergerissenen Häuser waren oft weit nach vorn gestürzt und ließen von der breiten Straße nur einen kleinen Strich, schmal und unregelmäßig wie ein Wildwechsel, als Fußpfad übrig. Er sah stur vor sich auf die Erde. Aber er fand seinen verlorenen voreiligen Stolz und seine übermütige Laune nicht wieder. Verloren, zerkrümelt, tot.
    Auf einmal sah er, daß es doch etwas Lebendiges in dieser toten hauslosen lärmlosen leichenfingerigen Stadt gab: Gras. Grünes Gras. Gras wie in Hopedale. Normales Gras. Millionenhalmig. Belanglos. Dürftig. Aber grün. Aber lebendig. Lebendig wie das Haar der Toten. Grauenhaft lebendig. Gras wie überall in der Welt. Manchmal etwas übergraut, übertaut, überkrümelt, staubig. Aber doch grün und lebendig. Überall lebendiges Gras. Er grinste. Aber das Grinsen gefror, weil sein Gehirn ein Wort, ein einziges Wort, dachte. Das Grinsen wurde grau und staubig wie das Gras an einigen Stellen. Aber eisig übertaut. Friedhofsgras, dachte das Gehirn. Gras? Gut, Gras, ja. Aber Friedhofsgras. Gras auf Gräbern. Ruinengras. Grausames gräßliches gnädiges graues Gras. Friedhofsgras, unvergeßlich, vergangenheitsvolles, erinnerungssattes, ewiges Gras auf Gräbern. Unvergeßlich, schäbig, ärmlich: Unvergeßlicher gigantischer Grasteppich über den Gräbern der Welt.
    Gras. Aber sonst begegnete er niemandem. Oder doch. Ein Laternenpfahl begegnete ihm, eine Telefonzelle und eine Anschlagsäule. Die traf er. Und der traurige krumme verbogene Laternenpfahl kam auf ihn zu und kicherte tränenerstickt: Ich kann nicht mehr leuchten. Ich bin kaputt. Ich bin liquidiert. Ruiniert. Total ruiniert. Ich mache keinLicht mehr. Ich scheine nicht mehr. Ich habe den Sinn meines Lebens verloren: Ich leuchte nicht mehr.
    Und an einer Ecke erwartete ihn eine traurige durchlöcherte durchsiebte Telefonzelle und wisperte tränenerstickt: Mir hat man die Eingeweide zerrissen und das Gehirn geklaut. Auch mein schönes neues rotes Buch mit den vielen Nummern und Namen. Alles futsch. Jetzt telefoniert kein Schwein mehr in mir. Nur dieses ordinäre Gras macht es sich in mir bequem. Und dann winkte ihm eine schiefe schwatzhafte Anschlagsäule zu und flüsterte mit dicker dummer Stimme tränenerstickt: Ist es
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