Das Geschenk der Sterne
immer näher kommen sah und spürte. Mit jedem ihrer Schritte verschwand ein Stück seiner Bedenken und Ängste, bis sie sich alle in Luft aufgelöst hatten.
Yu Lin war nicht traurig, sie war nicht böse, nicht verstört – sie war in Einklang mit sich selbst. Als sie einen Schritt vor ihm stehenblieb, erkannte er, daß sie ihn anlächelte. Ihr Lächeln sagte ihm unaussprechliche Worte, deren Sinn er nicht verstand, doch das brauchte er nicht, denn er hörte ihren sanften, zärtlichen Klang – und spürte, wie tief aus seiner Seele ein Lächeln auch in sein Gesicht stieg.
Yu Lin beging die unsichere Brücke mit ruhigen, vertrauensvollen Schritten, ohne an den unter ihr liegenden Abgrund zu denken. Ihre Angst löste sich auf wie ein Tautropfen im Sonnenlicht ihrer Sehnsucht, und sie spürte jenseits aller Zweifel, daß es keine größere und schönere Kraft als die Liebe in ihrer Seele gab. Ihre Ahnung, daß es Min Teng war, dem ihre Seele sich öffnen wollte, verwandelte sich in Gewißheit.
Ihre Umarmung geschah absichtslos, und deshalb fanden sie die verlorene Zauberperle.
FÜNFTER TEIL
WEN DER HIMMEL RETTEN WILL
Bald nachdem sie die Stadt Mang Wu hinter sich zurückgelassen hatten, bogen die Flüchtlinge von dem Hauptweg zur Grenze in westlicher Richtung ab, bis sie einen schmalen, von trockenem Gras bewachsenen Weg nach Norden fanden, der sie mit der Zeit in immer waldreichere Gebiete führte, dabei manchmal Schlangenlinien beschrieb und sich zwischenzeitlich so sehr verengte, daß sie eine Weile hintereinander reiten mußten.
Auch an diesem Tag schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf die Reisenden, die in aller Frühe aufgebrochen waren, nachdem Mo Tschen sie mit einem reichlichen Frühstück und Reiseproviant versorgt hatte.
Sie ritten schweigend. Tschuang Tse schien, wie in den beiden Tagen zuvor, ganz in der Betrachtung der Landschaft aufzugehen. Vor allem blühende Büsche und
Sträucher zogen sein Augenmerk auf sich, und fortwährend ließ er seinen Blick über besonders prächtig gewachsene Bäume schweifen.
Min Teng hatte an diesem Morgen wenig Sinn für die Schönheiten der Natur. Sein ganzes Fühlen und Denken kreiste um Yu Lin, die ihm das Tor in das Zauberreich der Liebe geöffnet hatte. Oder war es die Liebe selbst gewesen? Wie immer auch zu erklären sein mochte, was in der letzten Nacht geschehen war, es hatte Min Tengs Herz mit einer bis dahin unvorstellbaren Freude erfüllt, einer wilden und zugleich sanften, unerschöpflich wirkenden Freude, klar und weit wie der wolkenlose Sommerhimmel.
Ständig kehrten seine Gedanken zu der letzten Nacht zurück, die er in inniger Umarmung mit Yu Lin auf der Schlafmatte in Mo Tschens Gartenhaus verbracht hatte. Obwohl sie zu schlafen versucht hatten, um ihre Flucht am nächsten Morgen ausgeruht fortsetzen zu können, war keiner von ihnen auch nur einen Augenblick in den Schlaf gefallen. Die himmlische Kraft der Liebe, die ihre Nacht in stillen, tiefen Zauber gehüllt hatte, schenkte ihnen im Morgengrauen das Gefühl, so gestärkt und frisch aufzustehen, als wären sie aus einem langen, erholsamen Schlaf erwacht.
Min Teng hatte das Empfinden, als würde seine Seele vor Glück strahlen. Das Flußbett seiner Lebenslust, das nach dem Tod seiner Eltern fast ausgetrocknet war, führte nun mehr Wasser als jemals zuvor, und die Frage, wer er eigentlich war, hatte ihre ebenso unverhoffte wie
beglückende Antwort gefunden: Er war ein Liebender! Die Worte Lao Tses, die Yu Lin am vergangenen Abend vorgelesen hatte, berührten seine Seele mit ihrer tiefen Wahrheit: Wen der Himmel retten will, dem schenkt er Liebe!
»Dann bist du also heute nacht über die unsichere Brücke gegangen«, sagte Tschuang Tse unvermittelt zu Yu Lin, als die Unebenheit des Weges die Flüchtlinge zu einem langsamen Reiten zwang.
Yu Lin und Min Teng blickten den Weisen überrascht an.
»Warum schaut ihr so? Glaubt ihr, daß ich nicht sehe, was mit euch geschehen ist? Eure Blicke zeugen davon, eure Seelen strahlen es aus. Ihr seid dem Zauber der Liebe erlegen, was eigentlich nur eine Frage der Zeit war.«
»Warum überrascht es dich nicht, wenn es uns überrasch t hat?«
»Hat es das wirklich?« Tschuang Tse schmunzelte über Min Tengs Frage. »Ich habe es schon in dem Moment gesehen, als Yu Lin das Haus von Kun Liang betrat und eure Blicke sich zum ersten Mal trafen.«
»Was hast du gesehen?« fragte Yu Lin.
»Daß eine große Liebe zwischen euch schlief, die nur
Weitere Kostenlose Bücher