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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kruppa
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diente es Mo Tschen zur zusätzlichen Unterbringung von Gästen, wenn alle Zimmer seines Gasthauses belegt waren.
    Als Min Teng den von Bäumen, Büschen und Sträuchern dichtbewachsenen, von Blütendüften erfüllten Garten durchquert und das Ufer des Sees fast erreicht hatte, blieb er vor Überraschung stehen und hielt unwillkürlich den Atem an.
    Am Ende des schmalen Holzstegs saß Yu Lin, die wohl auch keinen Schlaf finden konnte, und schaute auf den See hinaus, auf dessen ruhiger Oberfläche sich das Mondlicht spiegelte, als wollte es seine stille Pracht verdoppeln. Ihre reglose, in weiße Kleidung gehüllte Gestalt
mit den langen schwarzen Haaren, die bis auf den Steg hinabfielen, wirkte wie ein Bild aus einem himmlischen Traum, das die Zeit zum Stillstand brachte.
    Nach einer Weile begann Yu Lin unvermittelt zu singen  – leise, anmutig und mit einer Schönheit, die bald eins wurde mit der Schönheit des Sees, der Sterne und des Mondes.
    Min Tengs Innerstes öffnete sich dem unverhofften, überwältigenden Zauber des Augenblicks. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er mit den Augen seiner Seele, hörte er mit den Ohren seiner Seele, zum ersten Mal wurde ihm sein wahres, ewiges Wesen bewußt – und er verstand, warum seine Mutter gesagt hatte, die Seele sei wie der Sternenhimmel. Im Licht dieses himmlischen Zaubers erschien ihm sein ganzes bisheriges Leben wie ein Schattendasein, in das er nie mehr zurückkehren wollte.
    Tschuang Tses Antwort auf seine Klage, daß er nicht mehr wisse, wer er sei, kam ihm in den Sinn: Damit du erkennst, wer du sein kannst!
    Min Teng hatten diese Worte tief berührt, als er sie hörte, doch erst jetzt verstand er ihre ganze Bedeutung, denn er hatte soeben seine Seele gefunden und keinen Augenblick gezögert, sie zu umarmen und sich mit ihr zu vereinen. Er empfand tiefe Dankbarkeit für Tschuang Tse, der ihm den Weg zu seinem Innersten freigelegt hatte, und für Yu Lin, die ihm mit der Magie ihres Gesanges ans Ziel dieses Weges geführt hatte – ohne ihr Wissen, ohne ihre Absicht.

    Min Teng mußte an Tschuang Tses Geschichte von der verlorenen Zauberperle denken, aber erst in diesem Moment begriff er, warum nicht Wissen, nicht Scharfsinn, nicht Logik und nicht Geduld die Zauberperle wiedergefunden hatten, sondern Absichtslos. Jede Absicht verwies das von ihr Gewünschte in die Schranken des zielbewußten Wollens, doch das Wunderbare brauchte grenzenlose Freiheit, um sich ereignen zu können, und deshalb konnte es nur jenseits aller Absichten seine Pracht entfalten.
    Yu Lin sang ein Lied über die Schönheit der Nacht, ihrer Stille, ihrer Sanftheit, ihres geheimnisvollen Reizes, der sich im Licht des Vollmonds offenbarte. So wunderbar der See auch vor ihm lag, so erhaben der Sternenhimmel sich über ihm wölbte, so kostbar dieser Augenblick auch war: Durch Yu Lins magisches Lied wurde alles auf geheimnisvolle Weise miteinander vereint und erst dadurch vollkommen.
    Plötzlich beendete Yu Lin ihren zarten Gesang und wandte sich zu Min Teng um, als hätte sie seine Nähe gespürt. Als sie ihn sah, stand sie auf und blickte ihn an.
    Min Teng erschrak. Hatte er Yu Lin durch sein Erscheinen gestört, aus dem Gleichgewicht gebracht, vielleicht sogar traurig gemacht? War sie ihm böse, weil er sie aus ihrer Versunkenheit gerissen hatte? Wie konnte er ihr zeigen, welch wunderbares, großes Geschenk sie ihm mit ihrem Gesang gemacht hatte, wenn sie böse auf ihn war? Sollte er ihr entgegengehen, oder würde sie das vielleicht noch mehr verstören? Wäre es besser, sich
wortlos ins Gasthaus zurückzuziehen und den Schlaf zu suchen, den er sicherlich nicht mehr finden würde?
    Er konnte keine Entscheidung treffen, und so blieb er bewegungslos stehen und erwiderte Yu Lins Blick.
    Plötzlich sah er einen Lichtschimmer um ihren Körper. Es war der gleiche Schleier von weißem, leicht flimmerndem Licht, den er erstmals bei Tschuang Tse gesehen hatte, als er glaubte, daß der richtige Zeitpunkt gekommen war, ihm das Leben zu rauben. Min Teng fragte sich, ob Yu Lin vielleicht eine Frau des Tao sei, doch als er anfing, darüber nachzudenken, erblickte er den Lichtschimmer auf einmal nicht mehr.
    Unwillkürlich schlossen sich seine Augen, als hätten sie Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung.
    Als Min Teng die Augen wieder öffnete, sah er, daß Yu Lin mit langsamen, weichen Schritten auf ihn zuging. Seine Gedanken standen still. Er war nichts mehr als Auge und Seele, eine Augenseele, die Yu Lin

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