Das Geschenk der Sterne
konnte man zu sehr lieben? War nicht jeder Liebe vom Schicksal eine bestimmte Größe beschieden, die alle Willenskraft und Vernunft nicht verkleinern konnten? Eins war sicher: Liebe, so wunderbar sie auch sein mochte, konnte einen Menschen in so tiefe, fürchterliche Qualen stürzen, daß ihm das Leben als ein unerträgliches Leid erschien, das nur der Freitod beenden konnte.
Dennoch gab es für Yu Lin nichts, was sie sich mehr wünschte, als den Zauber und die Schönheit der wahren Liebe zu erleben. War die Liebe vielleicht doch mehr als eine unwägbare und auch gefährliche Regung des Herzens, auf die nicht genug Verlaß war, um sich ihr mit Leib und Seele auszuliefern? Sie sei einer der Wege zum Tao, hatte Tschuang Tse gesagt, weil in tiefer Liebe sich das Ich auflöse wie Salz im Wasser. War es die Sehnsucht nach der Auflösung ihres Ichs, die Yu Lin ihre Stärke verlieh? War es am Ende sogar die Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Tao?
Min Tengs Gedanken wurden unklarer und schwächer und verwandelten sich unmerklich in Eindrücke von Yu Lin, die er seit dem Beginn ihrer gemeinsamen Flucht in sich aufgenommen hatte: Bilder des anmutigen Gesichts, der seelenvollen Augen, der zierlichen Gestalt und weichen
Bewegungen einer jungen Frau, die ihn vom ersten Augenblick an berührt, verwirrt und gebannt hatte. Mit dem Fluß der Bilder von Yu Lin, der vor seinen inneren Augen strömte, glitt er unmerklich in den Schlaf.
DIE ZAUBERPERLE
Min Teng erwachte aus einem aufregenden Traum. Sein Herz klopfte schnell und stark. Er griff nach den Erinnerungen, die er aus seinem Traum ins jähe Erwachen mitgenommen hatte, doch sie verblaßten so rasch, daß er sie nicht festhalten konnte.
Als sein Herz wieder ruhiger schlug, nahm er die langsamen Atemzüge Tschuang Tses wahr, die einen tiefen Schlaf verrieten.
Min Teng versuchte, wieder einzuschlafen, doch nach einer gewissen Zeit merkte er, daß sein Herz sich zwar beruhigt hatte, sein Geist aber so wach war, daß er so bald keinen Schlaf finden würde. Er dachte an die seltsame Unruhe, die ihn am vorherigen Abend im Haus von Kun Liang ergriffen hatte und wie der Sternenhimmel
mit seinem beruhigend leuchtenden Mond seine innere Erregung besänftigt hatte.
Vorsichtig stand er auf, zog sich an und verließ das Gästezimmer so leise wie möglich, um Tschuang Tse nicht zu wecken.
Vor der Tür des benachbarten Raumes, in dem Yu Lin schlief, blieb er unwillkürlich stehen. Einen Moment lang war es ihm, als hätte sie in dem Traum, der ihn aus dem Schlaf gestoßen hatte, eine Rolle gespielt.
Während er vorsichtig weiterging, fragte er sich, ob der Tod so sein würde wie das Erwachen aus einem schnell ins Vergessen abgleitenden Traum – und ob für immer verlorene Lebenserinnerungen vielleicht der Preis des Todes waren. Doch gab es nach dem Tod überhaupt noch etwas, das diesen Verlust als solchen empfinden könnte? Gab es überhaupt noch ein Empfinden, eine Wahrnehmung, ein Bewußtsein? Seine Mutter hatte ihm gesagt, daß die Seele eines Menschen unsterblich sei. Auf seine Fragen, woher sie das wisse, hatte sie geantwortet, daß sie es einfach wisse, doch diese Auskunft hatte Min Teng nicht genügt.
Nachdem er aus dem Gasthaus getreten war, hob er seinen Blick zum wolkenlosen Himmel, der von zahllosen Sternen übersät war. Er spürte, wie die Erhabenheit dieses Anblicks eine wohltuende Wirkung auf seinen Geist und sein Gemüt zu entfalten begann. Sein Blick streifte langsam über das Firmament, bis der ruhig leuchtende Vollmond mit seinem großen Vorhof ihn bannte. Die Luft war erfüllt von Geräuschen – leisen,
vielfältigen Lauten, die alle miteinander verbunden schienen und den Frieden der Nacht nicht störten, sondern auf geheimnisvolle Weise vertieften.
Nach einer Weile des stillen Stehens und Schauens zog es Min Teng zum See, und er ging durch den üppigen Hintergarten des Gasthauses auf das Ufer zu, wobei sich sein Blick immer wieder zum Himmel hob. Die Seele sei wie der Sternenhimmel, hatte seine Mutter gesagt: ewig, leuchtend und voller Zauber. Sein Vater hatte nie von dem Sternenhimmel und von der Seele gesprochen, er war ein wortkarger Mann der Tat gewesen, der seine Gedanken und Gefühle nicht zeigte.
Auf halbem Weg zum Ufer entdeckte er ein Gartenhaus, dessen Tür angelehnt war, und warf einen Blick in sein Inneres, das aus einem kleinen Raum bestand, der gerade genug Platz für eine Schlafmatte, zwei Sitzmatten und einen kleinen Tisch bot. Vermutlich
Weitere Kostenlose Bücher