Das Geschenk der Wölfe
wie es aufgenommen wird und sich entfaltet. Auch die Ergebnisse sind verschieden. So gibt es starke und schwache Morphenkinder. Wir wissen aber nicht, wovon die Entwicklung abhängt. Das Gleiche gilt für geborene Morphenkinder. Manche von ihnen wollen am liebsten gar keine sein. Voraussehbar ist die Entwicklung nur bei denen, die um das Chrisam ausdrücklich bitten.»
Margon legte demonstrativ die Hände auf den Tisch, als wollte er das Gespräch jetzt endgültig beenden.
«Fürs Erste müsst ihr hier bei uns bleiben», sagte er. «Beide jungen Wölfe und natürlich auch Laura. Bald werdet ihr auch die anderen kennenlernen, die zu unserer Gemeinschaft gehören. Ihr müsst lernen, die Verwandlung zu beherrschen und die Stimmen zu ignorieren. Vor allem aber müsst ihr euch von der Öffentlichkeit fernhalten, bis sich die allgemeine Aufregung über den Wolfsmenschen von Kalifornien gelegt hat.»
Stuart nickte. «Mach ich gern», sagte er. «Ich tu alles, was ihr sagt, und will noch so viel wissen!»
«Es wird nicht so leicht sein, wie ihr jetzt meint», sagte Margon. «Ihr wisst ja, wie ihr auf die Stimmen reagiert. Es wird euch unruhig machen, wenn ihr sie nicht mehr hört. Es wird euch drängen, sie aufzuspüren.»
«Aber wir sind ja bei euch», sagte Felix ermutigend. «Wir sind schon sehr lange zusammen, aber erst im Zeitalter der Moderne haben wir uns die Namen gegeben, die wir heute tragen. Einige von euch haben ja schon erraten, dass wir sie aus der Werwolfliteratur entlehnt haben. Damit wollten wir uns untereinander zu erkennen geben, aber auch denen, die nicht direkt zu unserem Zirkel gehören. Namen sind nämlich ein Problem für Menschen, die nicht sterben. Auch für andere offene Fragen werden wir mit der Zeit Lösungen finden und euch dabei helfen, denn hiermit seid ihr in unserem Kreis aufgenommen.»
Stuart, Reuben und Laura nickten tief bewegt. Stuart begann sogar wieder zu weinen und konnte kaum sitzen bleiben. Schließlich wurde sein Bewegungsdrang so groß, dass er aufstand und hinter seinem Stuhl auf und ab ging.
«Es ist Ihr Haus und Ihr Grundstück, Felix», sagte Reuben.
«Unser Haus und unser Grundstück», korrigierte Felix und sah Reuben lächelnd an.
Margon erhob sich und sagte: «Euer Leben, ihr jungen Wölfe, hat gerade erst begonnen.»
Das Zusammensein war beendet, und alle gingen aus dem Zimmer.
Eine Frage brannte Reuben aber noch auf der Seele. Er folgte Felix, dem er sich am verbundensten fühlte, in die Bibliothek, wo er neue Holzscheite ins Kaminfeuer legte.
«Was gibt es denn, junger Wolf?», fragte er. «Sie wirken bedrückt. Dabei war es doch ein sehr ergiebiges Gespräch.»
«Laura», sagte Reuben leise. «Was ist mit Laura? Werden Sie ihr das Chrisam weitergeben? Muss ich darum bitten oder Margon fragen oder …»
«Sie ist unserer würdig», sagte Felix. «Darüber waren wir uns alle schnell einig. Sobald sie bereit ist, braucht sie es bloß zu sagen, aber sie muss es selbst tun.»
Reubens Herz klopfte schneller, als er fragte: «Wer wird es dann tun?»
«Margon oder ich.»
Es war die Antwort, die Reuben erhofft hatte, und doch war ihm nicht ganz wohl. Im Grunde war ihm klar, dass Laura die Entscheidung selbst treffen musste und dass sie sich genug Zeit dafür nehmen sollte. Aber er war ungeduldig und konnte es gar nicht abwarten.
Felix konnte Reuben ansehen, wie unzufrieden er war. «Kopf hoch, junger Wolf!», sagte er. «Ihr seid wunderbare Wesen. Ich beneide euch um euer modernes Leben, und ich weiß gar nicht, ob ich mutig genug wäre, daran teilzuhaben, wenn ich euch nicht hätte.»
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40
I n den nächsten vierzehn Tagen passierte viel.
Margon brachte Stuart nach Santa Rosa, damit er seinen Wagen abholen konnte, einen alten Jaguar Cabrio, der einmal seinem Vater gehört hatte. Dort besuchten sie auch Stuarts Mutter, die sich in der psychiatrischen Klinik, in der sie untergebracht war, «furchtbar langweilte», wie sie sagte, und «die saublöden Illustrierten» satthatte. Um wieder auf andere Gedanken zu kommen, müsse sie wohl auf Shoppingtour gehen und sich komplett neu einkleiden. Ihre Agentin habe aus Hollywood angerufen und ihr mitgeteilt, sie stünde wieder hoch im Kurs. Es läge sogar ein konkretes Angebot vor und sie warte sehnsüchtig darauf, entlassen zu werden und nach L.A. zu fliegen. Dann könne sie ihre Einkäufe gleich am Rodeo Drive tätigen, was ihr ohnehin das Liebste sei.
Grace galt als die sprachgewandteste und
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