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Die letzten Worte des Wolfs

Die letzten Worte des Wolfs

Titel: Die letzten Worte des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Prolog
    Es war um die Mitte des Wiesenmonds. Ein früher Abend.
    Der Mann ging über sein Feld. Die Heuernte hatte noch nicht begonnen, für einen Bauern gab es wenig zu tun in diesen Wochen. Alles Säen und Pflanzen war geschehen, der lästige Maulwurf war – obwohl der geizige Bürgermeister sich wieder nicht an den Unkosten beteiligt hatte – von dem Fachmann Jerik Trinz vertrieben worden, das Wetter war nicht so trocken, daß das Feld gewässert werden mußte, und nicht so naß, daß Fäulnis zu befürchten stand. Die Hundsrosen blühten in den Hecken und erfüllten den milden Wind mit ihrem Duft, das Feld wogte und knisterte in Schattierungen von prachtvollem Gelb und unreifem Grün.
    Geduldig begutachtete Pargo Abim hier und da den Stand des Roggens und den Wuchs des für das Futterheu wichtigen Weißklees. Er war allein auf dem Feld, Frau und Tochter waren im Haus. Um so mehr irritierte es ihn, als er aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Er wandte sich um.
    Dort standen vier Männer, mitten in seinem Feld. Vier Männer, die ein paar Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen waren. Um sie herum flimmerte die Luft wie in der Glut des Hochsommers, doch das Flimmern ließ nach und verschwand. Die vier kamen auf Pargo Abim zu, es war zu spät für ihn, sich noch zu verstecken oder zur Flucht zu wenden. Sie waren nur fünfzehn, zwanzig Schritte entfernt und würden ihn im Nu erreicht haben.
    Was waren das für Gestalten? Groß waren sie alle, groß und breitschultrig, der Vorderste maß über zwei Schritt. Gekleidet waren sie in verschiedenfarbige Felle wie im tiefsten Winter, obwohl das Wetter warm und angenehm war. Sie trugen Waffen: Schwerter, Doppeläxte, Speere, eigenartig verbogene Armbrüste, massive, lederumwickelte Bögen. Der Vorderste trug ein verziertes Metallrohr anstatt eines Schwertes. Alle waren sie vollbärtig, mit düsteren, sturmgegerbten Gesichtern. Ihre Haare waren geradezu absurd; Pargo Abim hatte in Kuellen noch nie dergleichen gesehen, obwohl ab und zu Waldläufer aus dem Larnwald hierherkamen, die auch eine verrückte Haartracht hatten. Aber einer der vier trug nur einen hohen Haarkamm in der Mitte des Kopfes, der Rest seines Schädels war rasiert. Ein anderer hatte ebenfalls eine Glatze – bis auf zwei lange Zöpfe, die wie Hörner oben aus seinem Kopf sprossen. Der dritte hatte seine Stoppeln wie ein Schachbrett gefärbt und gestutzt. Der Vorderste hatte lange Haare fast bis zum Gurt, aber die Farbe war vollkommen unnatürlich: ein dunkles Blau, beinahe schwarz wirkend, aber nichtsdestotrotz ein Blau.
    Pargo Abim stand erstarrt, wie ein Kaninchen vor einem speicheltriefenden Raubtier.
    Die vier Männer kamen auf ihn zu – und gingen an ihm vorüber. Sie beachteten ihn überhaupt nicht. Ihr Weg kreuzte nur ungefähr den seinen, lediglich der mit den Haarhörnern schritt direkt an ihm vorbei und berührte ihn an der Schulter, wie um ihn besser umschiffen zu können oder wie um zu sagen: »Fürchte dich nicht, Bauer. Weder du noch dein Feld sind für uns von Belang.«
    Sie gingen Richtung Nordwesten, das Getreidefeld mit einer vierfachen Spur durchziehend. Was lag in dieser Richtung? Tagelang nur Wald; der Larn, in seiner selbst vom Frühsommerlicht kaum zu durchdringenden Finsternis. Dann die Stadt Tyrngan, mitten in den Kjeerklippen. Dahinter die Klippenwälder und irgendwann das Meer, aber darüber wußte Pargo Abim nichts Genaues. Er hatte das Meer noch nie gesehen. Der Bruder seiner Frau hatte ihm davon erzählt, von blauen Wellen bis hinter den Horizont, von riesigen Fischen und schuppenbedeckten Ungeheuern, aber Pargo Abim hatte nur die Schultern gezuckt und »Aha« gesagt.
    Wo waren die Männer hergekommen?
    Pargo Abim ging zu der Stelle, wo er sie zuerst erblickt hatte. Hier begann ihre Spur, begann einfach so, mitten im Getreidefeld. Der Bauer untersuchte den Boden, als ob die vier Männer vielleicht aus einem Maulwurfsloch gekrochen seien, das Jerik Trinz übersehen hatte, doch da war nichts, der Boden war eben und fest. Langsam blickte Pargo Abim hinauf zum Himmel, der blau und klar und ehrlich war, aber dennoch keine Antworten gab.

1

In Ruhe
    Rodraeg erschien als letzter zum Frühstück.
    Zum ersten Mal hatte er in seiner engen, lichtlosen Kammer richtig tief und entspannt schlafen können. Vorher hatte er nicht

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