Das Geschenk des Osiris
fielen Amunhotep Netnebus letzten Worte ein, doch bevor er sich über sie weitere Gedanken machen konnte, trat Netnebu wieder in den Wohnraum ein. Ihm folgte ein ungefähr fünfjähriger dunkelhäutiger Junge, der an seinem mageren linken Oberarm den kupfernen Reif eines zu lebenslanger Zwangsarbeit Verurteilten trug. Er hielt ein großes Tablett mit einer Schale Feigen, einem Krug Bier sowie zwei Trinkschalen in den Händen, während seine Augen neugierig zu Amunhotep blicken.
»Stelle es hier auf den Tisch, und dann warte vor der Tür. Ich rufe, wenn ich dich brauche«, wies Netnebu ihn an. Nachdem der Diener aus dem Raum verschwunden war, fügte er auf Amunhoteps fragenden Blick hinzu: »Den Armreif hat er seiner Mutter zu verdanken. Sie war eine unserer Feldarbeiterinnen, die wegen irgendeines schweren Vergehens zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt war. Sie starb bei Moses ’ Geburt.« Er setzte sich auf den freien Stuhl. »Und du hast dir also ein paar freie Tage genommen, um mich in Abydos zu besuchen?«
Amunhotep bejahte. »Ich werde natürlich die Gelegenheit nutzen und im Haus des Lebens mein Studium der Magie und der Medizin fortführen, während du deinem Dienst nachgehst.« Er schaute zu Netnebu, der gedankenverloren an einer Feige knabberte.
Sie hatten sich aus den Augen verloren, nachdem Netnebu als Vorlesepriester nach Abydos versetzt worden war. Ab und an hatten sie sich noch geschrieben, aber das einst so gute freundschaftliche Verhältnis schien nicht mehr vorhanden zu sein. Irgendwie kam es Amunhotep vor, als sei er nicht so recht willkommen. Konnte er seinem Freund aus früheren Tagen noch trauen?
»Wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sich Netnebu und brach das Schweigen.
»Sein Bein macht ihm zu schaffen. Ansonsten erfreut er sich bester Gesundheit.«
»Und Ramsesnacht? Leitet er noch immer mit eiserner Hand die Geschicke von Opet-sut?«
»In der Tat, und das trotz seiner siebzig Jahre.« Amunhotep lächelte bei dem Gedanken an seinen Großvater vor sich hin. »Seitdem er die Zügel in der Hand hält, gibt es keine unlauteren Geschäfte mehr im Tempel des Großen Gottes Amun.« Bei diesen Worten beobachtete er Netnebu und bemerkte, dass dieser leicht zusammenzuckte. Ohne Umschweife kam er zum wahren Grund seines Aufenthalts. »Wie sieht es hier in Abydos aus? Dem Wesir liegen Informationen vor, dass es Priester geben soll, die sich am Eigentum des Gottes bereichern.«
Netnebu wurde unter seiner Bräune sichtlich blass und schluckte. »Was willst du damit sagen?«
»Ich denke, das weißt du genau!« Amunhotep sah ihm fest in die Augen. »Was ist dir darüber bekannt oder bist du womöglich selbst darin verstrickt?«
Empört schnappte Netnebu nach Luft und sprang von seinem Stuhl hoch. »Wie kannst du es wagen, mir oder einem der anderen Diener des Gottes etwas Derartiges zu unterstellen!«
Amunhotep entging nicht, dass die Netnebus Empörung nicht ganz echt war und dass ihn etwas zu beunruhigen schien. Gelassen sah er ihn an. »Du weißt etwas, und ich werde es herausfinden. Es wäre also besser für dich, wenn du mir hilfst. Pharaos Urteil über dich würde milder ausfallen als über jene, welche sich ebenfalls schuldig gemacht haben.«
Unruhig trat Netnebu von einem Fuß auf den anderen und setzte sich schließlich wieder hin.
»Glaube mir oder lass es bleiben, aber ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.«
»Aber du weißt, wer es getan hat?«
»Ich habe keine Beweise, doch seit einiger Zeit ...« Netnebu machte ein niedergeschlagenes Gesicht.
»Erzähle mir, was du weißt!«
»Du kennst mein Interesse für Bauarbeiten. Ich verbringe viel freie Zeit auf der Baustelle, um zuzusehen, wie Ramses’ Heiligtum entsteht. Ich spreche mit dem Oberbaumeister, den Aufsehern und den Handwerkern, und so erweitere ich ständig mein Wissen. In den vergangenen zwei Wochen ist mir aufgefallen, dass die Bauarbeiten nur noch schleppend vorangehen und dass auch nicht mehr so viele Handwerker am Bau beteiligt sind wie sonst. Du hast selbst gesehen, dass ich mich nach einem Diener umsehen muss, wenn ich etwas brauche, denn auch unsere Leibeigenen sind mit einem Mal fast alle fort.«
»Und wo sind sie?«
Unschlüssig hob Netnebu die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wir haben aber den ersten Monat der Saatzeit. Der Nil ist zurückgegangen, und die Aussaat beginnt. Jedes Jahr um diese Zeit wird das Personal in Abydos knapp, doch niemand fragt, warum.«
»Weil alle wissen, wo die
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