Das Geschenk des Osiris
fielen sie sich freudig in die Arme. Netnebu war im ersten Moment so erstaunt, dass er glaubte, seine Augen hätten ihm einen Streich gespielt, als er den Heri-tep des Tempels von Opet-sut auf sich zukommen sah.
»Was machst du denn hier?«, fragte er Amunhotep, noch immer recht überrascht.
»Ich habe mir eine paar freie Tage genommen, um meinen alten Freund Netnebu zu besuchen.« Bei diesen Worten klopfte Amunhotep ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Aber wenn ich dein Gesicht sehe, glaube ich fast, es passt dir nicht, dass ich gekommen bin.«
»Nein, nein, die Götter mögen meine Zeugen sein, ich freue mich, dich nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich hätte sicher nicht die Zeit gefunden, dich in Theben zu besuchen.«
»Wieso, gibt es in Abydos so viel zu tun?« Erstaunt hatte Amunhotep die rechte Augenbraue gehoben. »Ich dachte immer, mein Amt in Opet-sut wäre anstrengender, denn ihr hier mit euren wenigen Priestern könnt euch doch nicht mit dem Tempel des Amun-Re vergleichen.«
»Du sagst es, Amunhotep. Wir haben viel zu wenig Priester und Personal, denn, mein Freund, auch in Abydos werden für den Großen Gott Osiris täglichen vier Riten abgehalten, genau wie in Theben für Amun. Und da ich selbst ein paar Jahre in Opet-sut gedient habe, weiß ich, dass sich ein Priester des Amun weniger abrackert als ein Priester des Osiris hier in Abydos. Ihr glaubt wirklich, ihr wäret der Nabel der Welt. Es gibt aber auch noch andere Götter in Kemi, nicht nur Amun-Re.«
Amunhotep war nicht entgangen, dass er seinen Freund verstimmt hatte. Versöhnlich lenkte er ein: »Verzeih, Netnebu, ich wollte dich weder kränken noch deine Arbeit hier in Frage stellen. Aber wenn ihr unterbesetzt seid, warum setzt sich der Oberpriester nicht mit dem Wesir in Verbindung?«
Lahm zuckte Netnebu mit den Schultern. »Djefahapi wird seine Gründe haben.« Er zupfte Amunhotep an seinem Hemd. »Komm, gehen wir in mein Haus. Hier gibt es zu viele Ohren.« Er nickte in Richtung eines leibeigenen Gärtners, der sich an einem Rosenstock zu schaffen machte.
Netnebu bewohnte, wie alle ranghohen Priester in Abydos, ein kleines Häuschen im parkähnlichen Bereich des Tempels etwas abseits von den Unterkünften der niederen Priesterschaft und den Wirtschaftsgebäuden. Es handelte sich um einen eingeschossigen Bau, der aus luftgetrockneten Schlammziegeln bestand und von außen weiß gestrichen war. Es war eines von fünf Wohnhäusern und wirkte recht bescheiden im Vergleich zu den beiden gegenüber gebauten, die von einer Umfassungsmauer vor neugierigen Blicken geschützt wurden.
»Wohnt Djefahapi dort?« Amunhotep nickte zu den beiden luxuriösen Häusern.
»Das größere gehört ihm, in dem anderen wohnt Ipuwer, unser Schatzmeister. Die beiden kleinen sind für den Obersten Schreiber und den Vorsteher der niederen Priesterschaft.«
»Sieh an, sieh an«, murmelte der Priester aus Theben, »auch im Tempel des Großen Gottes Osiris lässt es sich gut leben.«
Sie betraten das Gebäude, das Netnebu bewohnte, und begaben sich in den zentralen Wohnraum.
»Mache es dir bequem, Amunhotep. Ich werde sehen, ob ich einen Diener finde.« Fragend sah Amunhotep ihn an, sodass Netnebu sich genötigt fühlte, ihm diesen Umstand zu erklären. »Sie gehören nicht zur eigentlichen Priesterschaft und versehen ihren Dienst nur aushilfsweise. Derzeit ist das Personal recht knapp.« Damit drehte er sich um und verließ den Raum.
Kopfschüttelnd sah Amunhotep ihm hinterher.
Was ging hier vor, dass einem hohen Priester kein eigenes Personal zur Verfügung stand? War der Tempel des Osiris so arm oder wurden hier tatsächlich Arbeitskräfte für private Zwecke verliehen?
Aufmerksam sah sich Amunhotep um.
Wenn man davon absah, dass Netnebu ein eigenes kleines Häuschen bewohnte, so unterschied sich sein Lebensstandard nicht sonderlich von dem der einfachen Priesterschaft. Das Zimmer war sehr spärlich möbliert. Zwei Stühle, ein Hocker und ein kleiner Tisch, in der Ecke eine Wandnische, in der eine Lampe aus gebranntem Ton stand, sowie ein kleiner Schrein waren alles, was sich in diesem Raum befand.
Ein Bauer lebt nicht kärglicher, dachte er.
Auch wenn Netnebu nicht aus wohlhabenden Verhältnissen stammte, so stand ihm als Angehörigem der oberen Priesterschaft doch etwas mehr Luxus zu. Ob auch der Oberschreiber und der Vorsteher der niederen Priesterschaft ein solch spärliches Heim ihr Eigen nannten?
Derzeit ist das Personal recht knapp
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