Das geschenkte Gesicht
glückliches Volk!« Braddock setzte seine Mütze auf. »Ihre Nation hat den Krieg verloren, Madam. Man sollte das nach vier Monaten nicht schon vergessen haben!«
»Danke für den Nachhilfeunterricht, Major.«
Sie ließ Braddock mit Dr. Stenton im Chefraum zurück und ging auf ihr Zimmer.
Mitte September kam wieder ein Sack voll Post nach Bernegg. Famulus Baumann verteilte sie unter Bewachung von Leutnant Potkins. Die gesamte Stube B/14 war diesmal dabei. Der Wastl bekam einen Brief aus Berchtesgaden, Ursula Schwabe hatte geschrieben, eine Tante von Fritz Adam, die Mutter von Kaspar Bloch aus Flensburg. Und dann rief Baumann die Namen von zwei Menschen auf, für die ein Brief, ein dünnes, fleckiges Kuvert mit vielen Leitvermerken, eine Seligkeit, ein Taumel des Glückes bedeutete:
Paul Zwerch, der Berliner, hielt seinen Brief in der Hand, und er heulte und zeigte Baumann den Absender und begriff es nicht.
»Meine Mutter, Junge, meine Mutter. In Braunschweig is se jetzt, 'raus aus Berlin. Keen Russe kann ihr wat wollen. Se lebt – Baumann, du stures Rindvieh – se lebt!«
Der zweite Glückliche war Walter Hertz. Petra hatte geschrieben. Ein schmales, rosa Kuvert hielt er in den Fingern und las immer wieder seinen Namen, den Ihre Hand geschrieben hatte. Woher der Brief kam, wußte er noch gar nicht, was in ihm stand, hatte er noch nicht gelesen. Es war ein Brief von ihr – nach den langen Monaten verzehrenden Wartens. »Sie hat mich nicht vergessen«, stotterte er, und sein schiefes Gesicht wurde noch formloser. »Ich habe es gewußt, Jungs, ich habe es gefühlt, sie denkt an mich!«
Dann war Ruhe in der Stube. Die Sechs saßen auf ihren Betten und lasen ihre Briefe. Erich Schwabe wischte sich immer wieder über die Augen und zerwühlte sich mit der linken Hand die Haare. »Das – das sollte nicht sein«, sagte er. »Meine arme Uschi.« Er ließ den Brief auf das Bett flattern und stierte vor sich auf das Kissen. »Was mach' ich denn jetzt?« dachte er laut. »Was kann ich denn jetzt bloß machen?«
Fritz Adam, auf dem Nebentisch, beugte sich herüber. »Was ist denn wieder los, Erich?« fragte er leise.
»Uschi bekommt ein Kind!«
»Mensch, freu dich doch! Nun ist doch überhaupt alles kein Problem mehr.«
Schwabe schüttelte langsam den Kopf. »Wer sorgt denn für sie, gerade jetzt, in diesem Zustand. Sie haben doch nichts zu essen, Fritz. Keiner ist da, der ihnen etwas extra besorgen könnte. Jetzt braucht Uschi doch Obst und Fett und Gemüse. Und das Kind braucht es doch auch. Wenn ich jetzt zu Hause wäre, ja, da wäre das anders. Als Glaser kann ich arbeiten, kann ich tauschen, kann ich hintenherum was kriegen. Und nun sitze ich hier. Nicht mal bei der Geburt bin ich dabei. Wir haben uns immer so sehr auf das erste Kind gefreut, Fritz.«
Der Wastl, auf seinem Bett, räusperte sich laut. »Flüchtlinge aus Dresden hab' i kriagt«, sagte er. »An Professor der Zoologie. Jetzt will der mei Hühner kreuzen und veredeln! Aba vun an Neger schreibt's nix, die Resi. Sakrament!«
»Sie ist in Mannheim. Ganz allein ist sie da«, sagte Walter Hertz. »Ihr Vater ist in München. In einer Kantine der US-Airforce arbeitet sie. Wenn's geht, will sie mir ein Paket schicken.«
»Mein Vater liegt in Münster im Lazarett. Kurz vor Kriegsende ist er noch verwundet worden, am Bein.« Kaspar Bloch schüttelte den Kopf. »Sie haben meinen Vater einfach abgeholt und in eine Uniform gesteckt. Und eine Panzerfaust haben sie ihm gegeben. Er hat noch nie eine Panzerfaust in der Hand gehabt. Bevor er damit etwas anstellen konnte, wurde er verwundet. Mehr weiß Mutter auch nicht.« Kaspar Bloch sah sich um. Überall blickten ihn glückliche Augen an. »Aber er lebt, das ist die Hauptsache.«
»Mir is, als ob ick Weihnachten hätte«, sagte der Berliner leise. »Und ick hab' 'n Stück von 'n Engelflüjeln erwischt!«
In ihrem Zimmer saß Lisa Mainetti ebenfalls in einen Brief versunken und durch das Fenster in die Weite des Landes blickend. Professor Rusch hatte geschrieben. Aus dem Lager Darmstadt. Man hatte ihn mit Dr. Urban zusammengeführt und die beiden Männer einander gegenübergestellt. Und Dr. Urban hatte alles, was er gegen Rusch vorbrachte, alle Lügen, beschworen. »Meine Lage ist nicht rosig«, schrieb Rusch ehrlich. »Man wird natürlich alles nachprüfen. Aber wenn die Akten verbrannt oder vernichtet sind, wenn es keine Gegenbeweise gegen diesen gemeinen Eid gibt, kann ich einer der Letzten sein, der
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