Das Gesetz der Vampire
ich es ungeschehen machen könnte.«
Er seufzte frustriert. »Wie du neulich so treffend bemerktest, werde ich mit dieser unsäglichen Schuld leben müssen. Da ich ein Gewissen habe, kann ich dir versichern, dass es für mich keine schlimmere Strafe gibt als das Bewusstsein, dass ich einschließlich Cronos achtzehn Unschuldige«, er schluckte den Klumpen, der jetzt in seinem Hals saß, mühsam hinunter, »ermordet habe und ein Massenmörder bin. Ein Serienkiller. Genau die Art von« – beinahe hätte er »Mensch« gesagt, doch er korrigierte sich noch rechtzeitig – »Wesen, die ich am meisten verabscheue. Ganz ehrlich, Stevie: Ich wünschte, ich könnte ganz besonders deinen Schmerz irgendwie lindern, nachdem du so viel für mich getan hast.«
»Hm«, brummte sie und tat einen tiefen Atemzug. »Immerhin hast du gerade mein Leben gerettet. Danke.«
»Und du meins. Ebenfalls danke.« Er sah sie fragend an. »Beinhaltet das jetzt irgendeine moralische Verpflichtung? Sind wir jetzt so was wie Verbündete? Bei den Indianern und ich glaube auch anderen Völkern heißt es, dass jemand, der einem anderen das Leben rettet, von da an für ihn verantwortlich ist.«
Sie hob abwehrend die Hände. »Das lassen wir mal lieber sein«, verlangte sie. »Und nein, eine moralische Verpflichtung bringt das nicht mit sich.«
»Aber wenigstens einen Waffenstillstand?«, hoffte Ashton und widerstand dem irrationalen Impuls, sie in die Arme zu nehmen.
Sie schüttelte den Kopf. »Da wir uns nie bekämpft haben, brauchen wir auch keinen Waffenstillstand.« Sie atmete tief durch und zuckte mit den Schultern. »Ashton, ich weiß , dass du niemals einen unschuldigen Vampir getötet hättest, wenn du gewusst hättest, dass es solche überhaupt gibt. Das ist nicht deine Natur, wie ich in den letzten Wochen festgestellt habe. Und mein Schmerz ist meine persönliche Angelegenheit. Ich werde darüber hinwegkommen. Wenn man ein paar Jahrhunderte gelebt hat, so lernt man zwangsläufig, mit solchen Dingen fertig zu werden. Ein unsterbliches Leben wie unseres bringt unzählige endgültige Abschiede mit sich, mehr als jeder Mensch im Laufe seiner Existenz verkraften muss. Bis zu einem gewissen Grad gewöhnt man sich daran.«
»Aber Cronos war mehr für dich als nur ein Freund, nicht wahr?«
Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Das ist gut zwanzig Jahre her. Also mach dir darüber keine Gedanken.«
Die machte er sich dennoch. Er streckte die Hand nach ihr aus, um eine tröstliche Geste zu machen, doch Stevie wich ihm aus. Er ließ die Hand wieder sinken.
»Wieso bist du so schnell hier gewesen?«, wechselte er das Thema.
Sie sah ihn stumm an. Wie gern hätte sie sich von ihm berühren lassen – trösten lassen. Doch sie wusste, dass sie in dem Fall mehr getan hätte, als seine Geste nur freundschaftlich zu erwidern; sehr viel mehr; und dafür war hier weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Verdammt!
»Nachdem ich das Hotel verlassen hatte, habe ich bemerkt, dass die fünf sich auf dem Parkplatz herumdrückten«, antwortete sie ihm schließlich. »Da sie in Richmond nichts zu suchen haben außer der gesetzeswidrigen Befriedigung ihrer Rachelust an dir, hielt ich es für besser, sie im Auge zu behalten und bin ihnen deshalb gefolgt.« Sie gab ihm einen beinahe freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Du solltest dich beeilen, wenn du noch vor dem Morgengrauen zu Sean kommen willst.«
Er nickte. »Nochmals danke, Stevie.«
»Gleichfalls, Ashton.«
Im nächsten Moment hatte sie sich in die Luft erhoben und flog davon. Ashton stieg wieder in seinen Wagen, missachtete die Geschwindigkeitsbegrenzung in der Hoffnung, dass unterwegs keine Highway Patrol auf Verkehrssünder wie ihn lauerte und beeilte sich, nach Atlanta zu kommen. Obwohl Stevie ihm zum Schluss beinahe wohlwollend begegnet war, fühlte er sich immer noch zutiefst schuldig. Und er fragte sich zum unzähligsten Mal, ob dieses Gefühl wohl jemals nachlassen würde.
***
Ashton erreichte Atlanta und das Anwesen von Sean O’Shea eine knappe Stunde vor Sonnenaufgang. Der alte Vampir wohnte in einem kleinen Haus am Rande der Stadt, umgeben von einem parkähnlichen, verwilderten Garten. Ashton hatte sein Kommen per Handy angekündigt, und Sean erwartete ihn an der Tür, als Ashton mit seinem Wagen die Auffahrt hinauffuhr. Trotz seines irischen Namens sah der Mann ganz und gar nicht irisch aus. Er war nur etwa einssiebzig groß und eindeutig orientalischer Herkunft, wie
Weitere Kostenlose Bücher