Der Bann (German Edition)
Kapitel 1
Snowdonia
Heute
E rst als Hannah Wilde das Farmhaus erreichte, kurz nach Mitternacht, stellte sie fest, wie viel Blut ihr Mann bereits verloren hatte.
Sie hatten wenig geredet während der Fahrt nach Llyn Gwyr. Hannah hatte sich auf die Straße konzentriert, die Sicht verschwommen vom Regen und von Tränen. Neben ihr saß Nate zusammengesunken im Beifahrersitz des Discovery, ein verkrümmter Schatten. Sie musterte ihn von der Seite, während sie sich immer weiter von dem entfernten, was sie zurückgelassen hatten, doch es war ihr unmöglich, das volle Ausmaß seiner Verletzungen zu erkennen, solange sie sich auf die Straße konzentrieren musste. Jedes Mal, wenn sie vorschlug anzuhalten, schüttelte Nate nur den Kopf und drängte sie weiterzufahren.
Bring uns zum Farmhaus, Hannah. Ich schaffe das schon. Versprochen.
Kurz vor Mitternacht, nach vier Stunden hinter dem Lenkrad, stellte sie fest, wie die englischen Namen auf den Ortsschildern im Scheinwerferlicht des Discovery ihren walisischen Verwandten wichen:
Cyfronydd, Llangadfan, Tal-y-llyn.
Außer ihnen war niemand in dieser Nacht unterwegs. Und obwohl Hannah kaum mehr erkennen konnte als das, was direkt vor ihnen lag, spürte sie, wie das Land wilder wurde und sich ringsum öffnete.
Die Straße war kurvenreich und uneben, als wollte sie das Fahrzeug abschütteln. Eine Zeitlang folgte sie einem wilden Gebirgsbach, erkennbar einzig an dem Funkeln aus Mondlicht, das vom Wasser reflektiert wurde. Als die Straße eine Schleife beschrieb und sich höher schraubte, blieb das Glitzern in der Nacht zurück.
Einen knappen Kilometer vor Llyn Gwyr, in der Nähe eines Hügelkamms, verlangsamte Hannah den Geländewagen, bis er nur noch kroch, und schaltete die Scheinwerfer aus. Sie lenkte das Fahrzeug die letzten Meter zum Kamm hinauf, wo ein Eschenhain stand. Für einen Moment beobachtete sie, wie sich die kahlen Zweige im Wind bewegten.
Sie schaltete die Zündung aus. Bis zu diesem Augenblick hatte das Geräusch des Motors die Stimme des Windes übertönt. Hier oben, auf dem Kamm, sang er um sie herum und schaukelte den Wagen auf seinen Federn.
Mein Gott, was hast du dir nur dabei gedacht? Hast du wirklich geglaubt, dieser Ort wäre sicher?
Auf dem Beifahrersitz rührte sich Nate. Er hob den Kopf und blinzelte aus dem Fenster. «Kannst du irgendetwas erkennen?»
Jenseits der Bäume fiel das Land ab bis hinunter zum Ufer eines mandelförmigen Sees. Obwohl sich der Mond hinter weiteren von Westen heranziehenden Regenwolken versteckt hatte, phosphoreszierte die Wasserfläche. Die schwarzen Umrisse eines kleinen Flusses, der sich aus den Bergen hinabschlängelte, mündeten ganz im Westen in den See.
Das Farmhaus von Llyn Gwyr stand am gegenüberliegenden Seeufer. Ein steiler geschotterter Weg, der den Fluss über eine Steinbrücke überquerte, führte von der Straße zum Haus.
«Ich kann kaum was sehen auf diese Entfernung», antwortete sie. «Jedenfalls nicht in dieser Dunkelheit.»
«In der Türablage müsste ein Fernglas stecken. Kontrollier zuerst die Brücke. Guck, ob sie frei ist.»
Hannah nahm das Fernglas hervor, hob es an die Augen und richtete es auf den Fluss. Sie benötigte einen Moment, um sich zu orientieren, dann fand sie die Brücke. Der verwitterte Steinbogen sah kaum robust genug aus, um das Gewicht ihres Landrover zu tragen.
Keine Hindernisse auf der Brücke selbst – zumindest keine, die sie sehen konnte. Nichts, was darunter lauerte. Keine Hinweise auf einen möglichen Hinterhalt.
«Die Brücke ist sauber.»
«Okay. Jetzt das Haus.»
Sie hörte, wie er sein Gewicht verlagerte und ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken versuchte. Sofort nahm sie das Fernglas herunter. «Nate? Was ist? Was kann ich tun?»
«Nichts, Han. Mir geht es gut, keine Sorge.» Seine Stimme war belegt und heiser. «Mach weiter», sagte er erschöpft. «Kontrollier das Haus.»
Sie hob das Fernglas wieder an die Augen und richtete es auf das Farmhaus. Die weiß gekalkten Wände schimmerten im Licht eines wolkenverhangenen Mondes. Die charakteristischen Umrisse des durchhängenden Schieferdachs kannte sie bereits von Fotos. «Wonach soll ich suchen?»
«Kontrolliere die Fenster. Sind sie intakt?»
Eine Pause, während sie alle vier sichtbaren Fenster in Augenschein nahm. «Ja. Zumindest die auf dieser Seite.»
«Das ist gut. Was ist mit der Tür? Ist sie offen? Sieht sie aus, als wäre sie aufgebrochen worden?»
«Das ist schwierig zu sagen,
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