Das Gesetz Der Woelfe
Und überhaupt, es herrscht ja kein Bürgerkrieg dort und Hunger doch auch nicht, man denke nur an Carpaccio und Saltimbocca alla romana , schon bei den Namen läuft einem das Wasser im Mund zusammen.
Clara starrte nachdenklich aus dem Fenster in die graue morgendliche Stadt. Freies Aufenthaltsrecht aller europäischen Bürger. Wir sind ein Europa. Was für eine Errungenschaft haben die Politiker ihren Bürgern da verkaufen wollen. Doch es hat schon damals niemanden wirklich interessiert, was die da oben in Brüssel so beschließen, DIN-Normen und Richtlinien und Meilensteine. Und jetzt, da dieser Meilenstein so mir nichts dir nichts mit den Füßen getreten wird, interessierte es gleich zweimal niemanden. Clara nahm einen tiefen Zug und spann ihr gedankliches Stammtischgespräch grimmig weiter: Alles zu kompliziert, und überhaupt, das sind doch eh alles Ausländer, die bekommen sowieso mehr als wir deutsche Staatsbürger! Wo kämen wir da hin, wenn wir den Ausländern auch noch die Sozialhilfe bezahlen sollten, soll doch deren Regierung für sie zahlen … Clara schloss für einen Moment die Augen. Sie sollte solche Selbstgespräche lassen. Sie frustrierten fast ebenso wie ein echtes Streitgespräch von dieser Sorte und waren gleichermaßen sinnlos. Zumindest kam es ihr regelmäßig so vor, als ob Diskussionen dieser Art im realen Leben genauso im Nichts verhallten wie in ihren Gedanken. Und sie ließen sie mit dem Gefühl zurück, eine Außerirdische zu sein, jemand, der merkwürdige Ufo-Theorien zu verbreiten versucht, oder, noch schlimmer, eine Spinnerin, eine Träumerin, ein Verrückte, die es nicht lassen kann, eine Welt verbessern zu wollen, die eben so ist, wie sie ist, und in der man doch ganz gut zurechtkommt im Großen und Ganzen und wenn man das Kleingedruckte nicht liest. So eine, die sich über Lauschangriffe empört gegenüber Verbrechern! Als ob die das nicht verdienten. Eine, die nicht verstehen will, dass man nichts zu befürchten hat als rechtschaffener Bürger, der nichts zu verbergen hat. Eine, die gegen die Todesstrafe ist. Sogar bei Kinderschändern. Eine Verrückte eben. Alleinerziehende Akademikerin! Na ja, kein Wunder.
Clara stand auf und stellte das Geschirr in die Spüle. Dann beugte sie sich zu Elise hinunter und kraulte sie hinter den Ohren. »Wir haben’s nicht leicht, was?« Elise zuckte zustimmend mit ihren Schlappohren und schnaufte überzeugend tief.
Eine gute Stunde vor der Verhandlung saß Clara bei Rita im Café und schlürfte ihren unnachahmlichen Espresso.
»Der Kleine war gestern bei euch, ja?«, fragte Rita beiläufig und klapperte hinter dem Tresen mit den Tassen.
»Angelo Malafonte?«
» Sì . Angelo.« Rita, wie immer im kurzen Rock und mit aufgesteckten blondgefärbten Haaren, nickte. »Ein guter Junge. Ein wenig Pech vielleicht, aber in Ordnung. Du wirst ihm doch helfen, Clara?«
»Ich versuche es.« Clara zögerte. »Er scheint sehr beunruhigt. Kennst du ihn gut?«
»Nicht besonders. Er ist der Sohn einer entfernten Kusine von mir. Er …« Sie verstummte. Clara sah sie aufmunternd an. »Ja?«
Rita schüttelte abwehrend den Kopf und fragte unvermittelt: »Wo warst du gleich noch mal, als du damals in Italien warst?«
»In Apulien.« Clara wunderte sich ein wenig über Ritas abrupten Themenwechsel. Weshalb wollte sie nicht über Angelo sprechen? Immerhin hatte sie ihn doch zu ihr geschickt.
»Ah, Puglia .« Rita lächelte »Es ist schön dort, nicht wahr?«
Clara nickte, und eine Woge der Wehmut überrollte sie so unerwartet, dass sie nicht weitersprechen konnte. So lange hatten die Erinnerungen an diese Zeit in einem verstaubten Winkel ihres Geistes gelegen. Sie gehörten nicht hierher. Nicht in dieses Leben. Sie war eine andere gewesen damals, zu diesen anderen Zeiten, als die Welt noch unendlich groß und alles möglich gewesen war.
»Ja«, flüsterte Clara schließlich, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Es ist wunderbar dort.« Doch Rita hörte sie nicht mehr. Sie plauderte längst mit einem Gast am Nebentisch.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Wind peitschte Clara die kalten Tropfen ins Gesicht, während sie auf das monströse Gebäude in der Nymphenburger Straße zulief. Beim Bau dieses Gerichtsgebäudes hatte der Auftrag sicher gelautet, das hässlichste, abschreckendste Gebäude zu entwerfen, das man sich nur vorstellen kann. Beton, so weit das Auge reichte. Abweisende, blinde Fenster hinter wulstigen Vorsprüngen, die, verhängt
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