Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Erstes Kapitel
Die Schatten erwachen
Jeder Mensch hat ein Geheimnis, auch wenn es meist unspektakulär ist und nur aus Gründen der Vorsicht oder der Peinlichkeit verschwiegen wird. Aber es gibt noch andere Geheimnisse: solche nämlich, die die Welt in ihren Grundfesten erschüttern und alles verändern, was einem lieb und teuer ist. Jonathan Harkan hätte nie gedacht, dass seine Eltern ein solches Geheimnis vor ihm verbargen.
***
Es war die Nacht vor den großen Sommerferien. Die Stadt hatte die Sonne tief in ihren Panzer aus Beton eingesogen und schlief unter einer Glocke drückender Julihitze. Jonathan war allein zu Hause und lag mit einem Buch in seinem Bett. Auch wenn er es ungern zugab, er hasste das Gefühl, alleine zu sein in der beklemmenden Stille, die ihn umgab. Er hatte sich vorgenommen, zu lesen, bis ihm die Augen zufielen. Viel half es nicht; sein Puls beschleunigte sich jedes Mal, wenn er ein Geräusch hörte, und sein Kopf malte sich Bilder aus, die ihm Angst machten, Bilder von Einbrechern und seltsamen Kreaturen, die durch das Haus schlichen. Wenn sein Vater davon erfuhr, würde ihn das nur in der Annahme bestätigen, dass Bücher und Filme seine Fantasie zu sehr anregten und besser eingeschränkt werden sollten.
Es war weit nach Mitternacht, als Jonathan schließlich von der Müdigkeit übermannt wurde. Gähnend legte er Homers Odyssee zur Seite und löschte das Licht. Vor seinem Fenster zirpten die Grillen. Aus der Nachbarschaft wehte leise Musik zu ihm herüber, und in der Ferne hörte er das Rauschen des Verkehrs. Der Atem der Stadt hatte etwas Beruhigendes und erinnerte ihn daran, dass die Nacht bald vorüber war und ein langer, herrlicher Sommertag auf ihn wartete. Der erste Tag der Ferien. Mit einem Lächeln schloss er die Augen, zog sich die Decke über den Kopf und wartete auf den Schlaf.
Dann hörte er das Geräusch.
Schritte vor seinem Fenster.
Er wusste sofort, dass es dieses Mal keine Einbildung war. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr er hoch, starrte in die Dunkelheit und lauschte. Vom Hämmern seines Herzens abgesehen, war es plötzlich wieder still. Selbst die Grillen schwiegen. Konnten das seine Eltern sein? Nein, auf keinen Fall. Seine Mutter schob Nachtdienst in der Ambulanz der städtischen Klinik. Sein Vater war auf Geschäftsreise und würde frühestens am nächsten Mittag wieder zu Hause sein. Wer auch immer dort draußen herumschlich, führte sicher nichts Gutes im Schilde.
Lautlos stieg Jonathan aus dem Bett und ging zur Tür. Er warf einen Blick durch das Schlüsselloch und hielt den Atem an. Eine Gestalt machte sich an der verglasten Front des Eingangsbereichs zu schaffen. Sie war schmächtig und trug ein Kleid mit Kapuze, die ihr Gesicht nahezu verbarg. Hände mit grotesk langen Fingernägeln glitten klickend und klappernd über das Glas, als ob sie einen verborgenen Zugang suchten. Die Bewegungen waren geschmeidig wie die eines Raubtiers. Nachdem die Gestalt sich mit einem Blick über die Schultern überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete, ließ sie die Tür aufspringen.
Dickflüssig quoll die Angst durch Jonathans Venen. Irgendwo in dem Chaos auf seinem Schreibtisch musste sein Handy sein. Er tastete danach, bis ihm einfiel, dass es im Wohnzimmer lag. Von seinem Zimmer aus konnte er keine Hilfe rufen.
Die Gestalt warf ihre Kapuze nach hinten und strich sich ihr strähniges Haar aus der Stirn. Jonathan konnte das Gesicht einer Frau erkennen. Es war alterslos, scharfkantig und fahl wie das Mondlicht, das es umspielte. Sie stieg die Treppe empor, hinauf in den ersten Stock, und betrat das Schlafzimmer seiner Eltern.
Was soll ich jetzt tun? Jonathan zitterte am ganzen Körper.
In vielen Büchern hatte er Helden erlebt, die der Gefahr furchtlos ins Auge blickten. Selbst in eine solche Situation zu geraten war allerdings etwas ganz anderes. Er konnte nicht einfach ein paar Seiten überblättern und nachsehen, wie die Geschichte zu Ende ging. Er war auf sich allein gestellt.
Die Stimme der Fremden zerriss die Stille. Sie war heiser, fast krächzend. »Cornelius! Helena! Wacht auf! Wir müssen reden!«
Jonathan zuckte zusammen, als er die Namen seiner Eltern hörte. Auf leisen Sohlen ging er die Treppe hinauf und beobachtete die Frau. Sie war gut zwei Köpfe kleiner als er und so dünn, dass sie fast klapprig wirkte. Zugleich bewegte sie sich mit katzengleicher Anmut. Zischend stieß sie Flüche aus, als sie die Decken durchwühlte und bemerkte, dass niemand
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