Das Gesicht des Drachen
und seinen verwitweten Vater.
Unterwegs hatten Chang und Sen ein halbes Dutzend Mal im Frachtraum gesessen, den starken maotai getrunken, den der Kapitän stets in ausreichender Menge an Bord mitführte, und sich über das Leben in China und den Vereinigten Staaten unterhalten.
Sen entdeckte Chang auf einer Pritsche in der vorderen Ecke des Laderaums. Der hoch gewachsene, gelassene Mann runzelte die Stirn, als er den Kapitän sah. Er reichte seinem halbwüchsigen Sohn das Buch, aus dem er den anderen vorgelesen hatte, und stand auf.
Alle Anwesenden verstummten.
»Unser Radar zeigt ein schnelles Schiff auf Abfangkurs.«
Bestürzung machte sich breit.
»Die Amerikaner?«, fragte Chang. »Die Küstenwache?«
»So muss es wohl sein«, antwortete der Kapitän. »Wir befinden uns in amerikanischen Hoheitsgewässern.«
Er ließ den Blick über die verängstigten Gesichter der Emigranten schweifen. Wie bei nahezu jeder Ladung Illegaler, die Sen transportiert hatte, waren auch diese ehemals Fremden innerhalb kurzer Zeit zu Freunden geworden. Nun fassten sie einander bei den Händen oder raunten sich leise etwas zu, manche verunsichert, andere beruhigend. Die Augen des Kapitäns richteten sich auf eine Frau, die ihre anderthalbjährige Tochter im Arm hielt. Die Mutter, deren Gesicht von den Schlägen in einem Umerziehungslager gezeichnet war, senkte den Kopf und brach in Tränen aus.
»Was können wir tun?«, fragte Chang besorgt.
Kapitän Sen wusste, dass der Professor offene Kritik am chinesischen Regime geäußert hatte und daraufhin fliehen musste. Falls die amerikanische Einwanderungsbehörde ihn zurück in die Heimat schickte, würde er wahrscheinlich als politischer Gefangener in einem der berüchtigten Gefängnisse im Westen Chinas landen.
»Es ist nicht mehr weit bis zum Absetzpunkt, und wir sind mit voller Kraft unterwegs. Mit etwas Glück kommen wir nahe genug an die Küste heran, um Sie mit Schlauchbooten übersetzen zu können.«
»Nein, nein«, wandte Chang ein. »Bei diesen Wellen? Wir würden alle sterben!«
»Ich steuere einen natürlichen Hafen an. Dort dürfte es ruhig genug sein, dass Sie auf die Boote umsteigen können. Am Ufer warten bereits Lastwagen, um Sie nach New York zu bringen.«
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Chang.
»Ich fahre wieder hinaus in den Sturm. Bis die Beamten gefahrlos an Bord kommen können, befinden Sie sich längst auf den goldenen Pfaden, die direkt in die Stadt der Diamanten führen... Und jetzt sollten alle ihre Sachen zusammenpacken. Nehmen Sie nur das Notwendigste mit, das Geld, die Fotos. Alles andere lassen Sie zurück, denn Sie müssen so schnell wie möglich an Land gelangen. Bleiben Sie unter Deck, bis entweder der Geist oder ich Sie nach oben rufen.«
Kapitän Sen eilte die steile Treppe wieder hinauf und richtete ein Stoßgebet an Tian Hou, die Göttin der Seeleute, sie möge ihrer aller Leben beschützen. Dann wich er der grauen Wasserwand aus, die neben dem Schiff aufragte.
Als er die Brücke erreichte, stand dort der Geist vor dem Radarschirm und starrte auf die schimmernde Anzeige. Der Mann verharrte völlig reglos und hielt sich mit beiden Händen fest, um auf dem schlingernden Schiff nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Manche der Schlangenköpfe kleideten sich wie die reichen kantonesischen Gangster aus einem Film von John Woo, doch der Geist sah stets wie ein ganz gewöhnlicher Chinese aus, mit schlichter Stoffhose und einem kurzärmeligen Hemd. Er war muskulös, ziemlich klein, glatt rasiert, trug das Haar etwas länger als ein typischer Geschäftsmann, benutzte aber weder Gel noch Spray.
»In fünfzehn Minuten haben sie uns erreicht«, sagte der Schlangenkopf. Sogar jetzt, angesichts einer drohenden Enterung und Festnahme, wirkte er so lethargisch wie der Fahrkartenverkäufer eines ländlichen Busbahnhofs.
»Fünfzehn?«, entgegnete der Kapitän. »Unmöglich. Mit wie vielen Knoten sind die denn unterwegs?«
Sen ging zum Kartentisch, dem Kernstück aller hochseetüchtigen Schiffe. Darauf ausgebreitet lag eine Seekarte des Gebiets, hergestellt von der amerikanischen Defense Mapping Agency. Zur Ermittlung der relativen Position beider Schiffe standen ihm nur diese Karte und das Radar zur Verfügung, denn um nicht angepeilt werden zu können, hatten sie die Satellitennavigation der Dragon, das EPIRB-Funkfeuer und das Global Maritime Distress and Safety System abgeschaltet.
»Ich schätze, es wird noch mindestens vierzig Minuten dauern«,
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