Das Gesicht des Drachen
eines der wenigen existierenden Fotos des Geists, aufgenommen bei einer Überwachungsaktion und von sehr schlechter Qualität, ein Bild von Sen Zijun, dem Kapitän der Fuzhou Dragon, und eine Karte des östlichen Long Island sowie der umliegenden Gewässer.
Vor einigen Jahren hatte Rhyme bei der Untersuchung eines Tatorts einen Unfall erlitten, durch den sein vierter Halswirbel verletzt worden war. Infolge der daraus resultierenden Querschnittslähmung hatte er sich zunächst vollständig von allen Aktivitäten zurückgezogen und sein Bett nicht mehr verlassen. Mittlerweile verbrachte er die Hälfte des Tages in seinem kirschroten Storm Arrow, der sich seit neuestem über ein hochmodernes MKIV-Touchpad lenken ließ, das Lincolns Betreuer Thom im Sortiment von Invacare entdeckt hatte. Rhyme bediente es mit seinem einen noch funktionsfähigen Finger und erhielt dadurch bei der Steuerung des Rollstuhls eine weitaus größere Flexibilität als mit dem alten Strohhalmsystem.
»Wie weit noch bis zur Küste?«, rief er, ohne den Blick von der Karte abzuwenden.
Lon Sellitto, der am Telefon saß, hob den Kopf. »Ich werde mal nachfragen.«
Rhyme arbeitete häufig als Berater für das NYPD, aber meistens ging es dabei um klassische forensische Spurenauswertung - um Kriminalistik, wie es im Jargon der Strafverfolgungsbehörden heutzutage bevorzugt hieß. Dieser neue Auftrag war ungewöhnlich. Vor vier Tagen hatten Sellitto, Dellray, Peabody und der wortkarge Alan Coe ihn in seinem Haus aufgesucht. Rhyme war mit den Gedanken anfangs nicht ganz bei der Sache gewesen - ihn beschäftigte zurzeit vor allem eine nahe bevorstehende Operation -, aber Dellrays eindringliche Bitte hatte schließlich seine Neugier geweckt: »Sie sind unsere letzte Hoffnung, Linc. Wir stecken in großen Schwierigkeiten und haben nicht die leiseste Ahnung, an wen wir uns sonst wenden könnten.«
»Fahren Sie fort.«
Interpol - die Zentralstelle zur internationalen Koordination der Ermittlungsarbeit in der Verbrechensbekämpfung - hatte eines ihrer berüchtigten Roten Bulletins in Umlauf gebracht. Es ging um den Geist. Nach Aussage mehrerer Informanten war der weltweit gesuchte Schlangenkopf im chinesischen Fuzhou aufgetaucht, von dort erst nach Südfrankreich und dann weiter in irgendeine russische Hafenstadt geflogen, um eine Schiffsladung illegaler chinesischer Auswanderer zu übernehmen, zu denen auch der bangshou, der Assistent des Geists zählte - ein Spion, der sich als einer der Emigranten ausgab. Als Zielort vermutete man New York, aber dann war der Mann von der Bildfläche verschwunden, und weder die taiwanesische noch die französische oder russische Polizei konnten ihn aufspüren, desgleichen FBI und INS.
Das einzige Material, das ihnen zur Verfügung stand, hatte Dellray gleich mitgebracht - einen Aktenkoffer mit ein paar persönlichen Habseligkeiten des Geists, die man in seinem französischen Unterschlupf sichergestellt hatte. Der FBI-Agent hoffte, Rhyme würde daraus vielleicht ablesen können, wohin die Spur des Mannes führte.
»Warum dieses allgemeine Interesse?«, hatte Rhyme mit Blick auf die Neuankömmlinge gefragt, die immerhin drei bedeutende Strafverfolgungsbehörden repräsentierten.
»Er ist ein verdammter Soziopath«, antwortete Coe.
Peabodys Antwort fiel etwas maßvoller aus. »Bei dem Geist handelt es sich wahrscheinlich um den gefährlichsten Menschenschmuggler der Welt. Er wird im Zusammenhang mit elf Morden gesucht - zu den Opfern zählen sowohl Emigranten als auch Polizisten und verdeckte Ermittler. Aber wir wissen, dass er noch weitere Menschen umgebracht hat. Die Illegalen werden oft auch als >Verschwundene < bezeichnet - falls sie versuchen, einen der Schlangenköpfe zu hintergehen, beseitigt man sie. Sobald sie sich über irgendetwas beklagen, räumt man sie aus dem Weg. Sie lösen sich einfach für immer in Luft auf.«
»Und er hat mindestens fünfzehn Flüchtlingsfrauen vergewaltigt«, fügte Coe hinzu. »Das jedenfalls sind die Fälle, von denen wir wissen. Ich bin überzeugt, es gibt noch mehr.«
»Hochrangige Schlangenköpfe wie er nehmen normalerweise nicht persönlich an den Überfahrten teil«, erklärte Dellray.
»Seine Anwesenheit hat vermutlich einen ganz bestimmten Grund: Er will seinen hiesigen Einflussbereich ausdehnen.«
»Falls ihm die Einreise gelingt, werden Menschen sterben«, sagte Coe. »Viele Menschen.«
»Tja, und wieso ich?«, fragte Rhyme. »Ich kenne mich mit Menschenschmuggel
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