Das Gesicht des Fremden
erklären versuchte, was Joscelin Grey für ein Mensch gewesen war und daß nicht er, William Monk, sondern sein eigener Bruder Menard ihn umgebracht hatte. Er sah die ungläubigen Gesichter vor sich, voller Verachtung für einen Mann, der sich der gerechten Strafe entziehen wollte, indem er eine ungeheuerliche Beschuldigung vorbrachte.
Verzweiflung drohte ihn zu erdrücken. Und er bekam Angst. Seine Zeit lief ab; es blieben ihm nur noch wenige Wochen in einer nackten Zelle, umgeben von steinernen Mauern und abgestumpften Wärtern, die ihn bemitleideten und haßten, dann die Henkersmahlzeit, der Priester, der kurze Gang zum Galgenbaum, der Geruch nach feuchtem Seil, der Schmerz, das Ringen mit dem Tod und das Vergessen.
Er war noch immer wie gelähmt, als er im Treppenhaus Schritte hörte. Das Schnappschloß sprang auf, und Evan stand in der Tür. Dieser Moment war schlimmer als alles andere. Es war nutzlos zu lügen – Evan stand das Wissen ins Gesicht geschrieben –, aber er hatte ohnehin keine Kraft mehr dazu.
»Wie sind Sie dahintergekommen?« fragte er ruhig.
Evan zog die Tür hinter sich zu. »Sie haben mir den Auftrag gegeben, mich über Dawlish umzuhören. Ich stöberte einen Offizier auf, der mit Edward Dawlish bei derselben Truppe war. Er hat weder gespielt, noch ist Joscelin Grey für irgendwelche Schulden seinerseits aufgekommen. Alles, was er über ihn wußte, hatte Joscelin von Menard erfahren. Es war verdammt riskant, Edwards Familie ein solches Lügenmärchen aufzutischen, aber es hat funktioniert. Wenn er nicht ermordet worden wäre, hätten sie ihn finanziell unterstützt. Sie gaben Menard die Schuld an Edwards Abstieg in dubiose Gesellschaftskreise und verbaten ihm das Haus. Ein hübscher Streich, den Joscelin ihnen da gespielt hat.«
Monk starrte ihn an. Alles paßte zusammen und würde dennoch niemals ausreichen, einen Geschworenen an seiner Überzeugung zweifeln zu lassen.
»Das muß Greys mysteriöse Einnahmequelle gewesen sein: die Familien der Gefallenen durch geschickten Schwindel dazu zu bringen, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten«, fuhr Evan fort. »Der Fall Latterly beschäftigte Sie so sehr, daß man nicht viel Phantasie brauchte, um auf den Gedanken zu kommen, daß die Latterlys ebenfalls zu seinen Opfern gehört hatten – woraufhin sich Charles Latterlys Vater das Leben nahm.« Er schaute Monk bekümmert an.
»Hatten Sie das damals auch schon alles herausgefunden – vor dem Unfall?«
Er wußte über Monks Gedächtnisverlust Bescheid. Wahrscheinlich war dieser Umstand offensichtlicher gewesen, als er angenommen hatte: sein unsicheres Gestammel, die völlige Unkenntnis, was Straßen, Schenken, altbekannte Schlupfwinkel von Informanten, ja sogar Runcorns Haß anbelangte. Egal – es war nicht mehr von Bedeutung.
»Ja. Aber ich habe Joscelin Grey nicht getötet. Wir haben uns geprügelt, vielleicht war er sogar verletzt – ich war es jedenfalls –, aber er war quicklebendig und fluchte lauthals, als ich ging.« Monk sprach sehr langsam, als würden die Worte an Glaubhaftigkeit gewinnen, wenn er sie eins nach dem andern in die Stille fallenließ. »Draußen auf der Straße kam mir Menard Grey entgegen. Ich sah, wie er im Haus verschwand. Er bewegte sich auf das Licht zu, während ich mich davon entfernte. Der Sturm hatte die Haustür aufgedrückt.«
Unbeschreibliche Erleichterung überflutete Evans Züge. Er sah plötzlich wieder jung und harmlos aus, und unglaublich müde. »Dann hat Menard ihn umgebracht.« Das war eine Feststellung.
»Ja.« Monk hatte das Gefühl, eine zarte Blüte würde sich in ihm auftun und eine Süße verströmen, die ihn mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Auch wenn es keine Hoffnung gab, Evans Vertrauen war ein unermeßlich wertvoller Schatz. »Es gibt nur keine Beweise dafür.«
»Aber –«, begann Evan eifrig, doch die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als ihm klar wurde, wie recht Monk hatte. All ihre Nachforschungen hatten nichts Konkretes ergeben. Menard hatte zwar ein Motiv, aber das hatte Charles Latterly auch; genau wie Mr. Dawlish oder jede andere Familie, die Joscelin hinters Licht geführt hatte, wie jeder Freund, der von ihm entehrt worden war, wie Lovel Grey – den er womöglich auf die grausamste Art und Weise verraten hatte – und wie Monk. Und Monk war zur Tatzeit dort gewesen. Jetzt, wo sie das wußten, wußten sie auch, wie leicht es zu beweisen war. Man mußte lediglich das Geschäft ausfindig machen, in dem er diesen
Weitere Kostenlose Bücher