Das Gesicht des Fremden
Arm. »Er lieh ihm seine Uhr. Latterly hatte Angst, und die Uhr galt als eine Art Glücksbringer, ein Talisman. Sein Großvater hatte sie schon in Waterloo dabei.«
»Tut mir leid, Sir, ich kenn keinen Leutnant Latterly, und Major Grey war nie auch nur in der Nähe von der Alma. Und ’ne besondere Uhr hat er auch nich gehabt.«
»Sind Sie sicher?« Monk verdrehte dem Mann das Handgelenk, ohne sich dessen bewußt zu sein.
»Klar bin ich sicher, Sir.« Er machte sich los. »Ich war ja dabei! Seine Uhr war ganz normal vergoldet und so neu wie seine Uniform. Die hat genausowenig von Waterloo gesehen wie er.«
»Und ein Offizier namens Dawlish?«
Der Wirt massierte stirnrunzelnd sein Handgelenk. »Dawlish? Nach dem haben Se mich aber nich gefragt.«
»Ja, kann sein. Erinnern Sie sich trotzdem an ihn?«
»Nein, Sir. Hab den Namen noch nie gehört.«
»Und was die Schlacht an der Alma betrifft, sind Sie völlig sicher?«
»Todsicher, Sir, ich schwör’s bei Gott. Wenn Sie auf der Krim gewesen wären, Sir, wüßten Se auch noch ganz genau, bei welcher Schlacht Sie dabeigewesen sind und bei welcher nich! Das war wohl der schlimmste Krieg, den’s je gegeben hat. Überall Dreck und Männer, die am Krepieren waren – und die furchtbare Kälte…«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Wolln Se denn nich mehr Ihr Brot und Ihren Käse essen, Sir? Die Silberzwiebeln da sind ’ne Spezialität des Hauses. Sollten Se unbedingt probieren. Schaden tut’s Ihnen bestimmt nich; Sie sehen ’n bißchen spitz aus.«
Monk tat ihm den Gefallen, bedankte sich nochmals mehr oder minder mechanisch und ließ sich an einem der Tische nieder. Er aß, ohne etwas von dem zu schmecken, was er aß. Anschließend begab er sich wieder nach draußen, wo gerade die ersten, schweren Regentropfen auf den Boden klatschten. Er erinnerte sich, die langsam wachsende Wut schon einmal empfunden zu haben. Das Ganze war eine Lüge gewesen, ein grausamer und sorgfältig vorausgeplanter Schwindel, um sich Zutritt zum Haus der Latterlys zu verschaffen, sich allmählich ihre Freundschaft zu erschleichen und ihnen schließlich aufgrund der angeblich abhanden gekommenen Uhr solche Schuldgefühle einzureden, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als es durch eine Teilhaberschaft an seinem Geschäftsunternehmen wiedergutzumachen. Grey hatte sein gesamtes schauspielerisches Talent aufgeboten, um sich erst ihren Kummer, dann ihr Verantwortungsgefühl zunutze zu machen. Gut möglich, daß er auf die gleiche Weise mit den Dawlishs verfahren war.
Der Zorn in ihm wurde heftiger – genau wie damals. Er lief immer schneller durch den mittlerweile starken Regen. Die Tropfen peitschten seine Haut, er merkte es nicht. Das Schmutzwasser im überlaufenden Rinnstein spritzte unter seinen Füßen zur Seite weg, als er achtlos auf die Fahrbahn sprang, um eine Kutsche anzuhalten. Er befahl dem Kutscher, ihn zum Mecklenburg Square zu bringen – auch das hatte er schon einmal getan.
Dort angekommen, verschwand er sofort im Haus. Dieses Mal gab Grimwade ihm den Schlüssel, beim letztenmal war sein Platz verlassen gewesen.
Er ging hinauf. Die Umgebung kam ihm fremd und unbekannt vor, als wäre er tatsächlich zum erstenmal hier – wie vor zwei Monaten. Vor der Tür blieb er unschlüssig stehen. Damals hatte er geklopft, jetzt schob er den Schlüssel ins Schloß. Die Tür schwang auf, und er trat ein. An jenem anderen Abend hatte Joscelin Grey ihm geöffnet, in blasses Taubenblau gehüllt, das hübsche Gesicht zu einem freundlichen, nur leicht überraschten Lächeln verzogen. Er sah ihn so deutlich vor sich, als wäre es lediglich wenige Minuten her.
Grey hatte ihn vollkommen ungezwungen hereingebeten. Er hatte seinen Stock in den Ständer gestellt – den Mahagonistock mit der eingehämmerten Messingkette am Knauf, der sich nach wie vor dort befand. Dann war er Grey ins Wohnzimmer gefolgt und hatte ihn über den Grund seines Besuchs informiert: den Bankrott der Tabakfirma, Latterlys Tod, die Tatsache, daß er, Grey, gelogen hatte, daß er George Latterly nie begegnet war, daß überhaupt keine Uhr existierte.
Grey hatte sich von der Anrichte abgewandt, Monk, einen Drink angeboten, sich selbst einen gemixt. Sein Lächeln war breiter geworden.
»Mein lieber Freund, nur eine harmlose kleine Lüge, kaum der Rede wert. Ich erzählte ihnen, was für ein guter Kamerad der arme George gewesen sei, wie tapfer, wie nett, wie beliebt. Es war genau das, was sie hören wollten. Was
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