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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sogar täglich begegnet. Trotzdem wurde nicht die leiseste Erinnerung in ihm wach.
    »Was ist, Mann?« versetzte Runcorn ungeduldig. »Erinnern Sie sich? Wir hatten Sie nicht dahin geschickt, wo Sie waren! Was, zum Teufel, hatten Sie vor? Sie müssen irgendwas im Alleingang getan haben. Wissen Sie vielleicht noch, was?«
    Die Leere war unergründlich.
    Monk brachte die Andeutung eines Kopfschüttelns zustande, aber das leuchtende Brodeln in seinem Innern blieb. Er war selbst ein Polyp, ein Peeler, deshalb kannten sie ihn! Er war kein Dieb, kein flüchtiger Verbrecher.
    Runcorn, dem die frisch erwachte Spannkraft in seinem Gesicht nicht entgangen war, beugte sich ein wenig vor und beobachtete ihn scharf.
    »Sie erinnern sich an etwas!« stellte er triumphierend fest.
    »Kommen Sie, Mann – was ist es?«
    Monk konnte ihm unmöglich begreiflich machen, daß nicht eine aufgetauchte Erinnerung für die Veränderung in ihm verantwortlich war, sondern das allmähliche Schwinden der Angst, die sich bis an die Grenze des Erträglichen in ihm ausgebreitet hatte. Die alles erstickende Decke über seinem Geist war zwar noch vorhanden, jetzt aber bedeutungslos, keine spezifische Bedrohung mehr.
    Runcorn wartete nach wie vor auf eine Antwort und starrte ihn eindringlich an.
    »Nein«, sagte Monk langsam. »Es ist zu früh.«
    Runcorn richtete sich auf. Er seufzte und versuchte sich zu beherrschen. »Wird schon wieder.«
    »Seit wann bin ich hier? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.« Das klang doch ganz vernünftig: Jedem Bettlägerigen würde es so gehen.
    »Seit über drei Wochen. Heute ist der 31. Juli 1856«, fügte Runcorn mit dem Anflug von Sarkasmus hinzu.
    Großer Gott! Über drei Wochen, und alles, woran er sich erinnerte, war der gestrige Tag. Er schloß die Augen. Es war sogar weitaus schlimmer – ein ganzes Leben von… wer weiß wie vielen Jahren lag hinter ihm, und er erinnerte sich nur an gestern! Wie alt war er? Wie viele Jahre waren ihm verlorengegangen? Wieder stieg Panik in ihm hoch, und einen Moment lang hätte er am liebsten gebrüllt: Warum hilft mir denn keiner? Wer bin ich? Gebt mir mein Leben zurück, mein Ich!
    Aber Männer schrien ihren Kummer nicht einfach so heraus, weder in der Öffentlichkeit noch im stillen Kämmerlein. Seine Haut war mit kaltem Schweiß bedeckt; er lag starr und reglos da, die Hände neben dem Körper zu Fäusten geballt. Runcorn würde es als Schmerzverhalten deuten, als normale Reaktion des Körpers auf physische Pein, und diesen Eindruck mußte er aufrechterhalten. Runcorn durfte auf keinen Fall denken, er hätte vergessen, wie ein guter Polizist seine Arbeit tut. Ohne Arbeit würde das Armenhaus tatsächlich in erschreckend greifbare Nähe rücken – und damit ein tägliches Einerlei aus striktem Gehorsam und Unterwürfigkeit, sinnlosem Schuften und Ausweglosigkeit.
    Er zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren.
    »Über drei Wochen?«
    »Ja«, bestätigte Runcorn. Dann hustete er und räusperte sich. Wahrscheinlich war ihm die ganze Angelegenheit peinlich. Was sagt man zu einem Mann, der nicht weiß, wer man ist, der nicht mal weiß, wer er selbst ist?
    »Wird schon wieder«, sagte Runcorn noch einmal. »Wenn Sie erst wieder auf den Beinen sind, wenn Sie wieder arbeiten können. Sie brauchen Urlaub, eine kleine Pause, um zu Kräften zu kommen. Nehmen Sie sich eine oder zwei Wochen frei. Ja, tun Sie das! Kommen Sie erst ins Revier zurück, wenn Sie sich wieder ganz fit fühlen. Ich bin sicher, dann kommt alles ins Lot.«
    »Bestimmt«, pflichtete Monk ihm bei, eher Runcorn zuliebe als aus Überzeugung. Er glaubte nicht daran.
    Drei Tage später verließ er das Krankenhaus. Er war kräftig genug, um laufen zu können, und niemand blieb länger als unbedingt nötig in einer solchen Einrichtung. Das hatte nicht nur finanzielle Gründe, sondern entsprang dem reinen Selbsterhaltungstrieb. In Krankenhäusern starben mehr Menschen an einer Kreuzinfektion als an den Krankheiten oder Verletzungen, denen sie den Aufenthalt ursprünglich zu verdanken hatten. Diese Tatsache wurde ihm auf sonderbar vergnügt-resignierte Weise von dem Pfleger mitgeteilt, der ihm als erster seinen Namen verraten hatte.
    Er glaubte es gern. In den wenigen Tagen, die in seinem Gedächtnis haften geblieben waren, hatte er die Ärzte von einer blutenden oder eiternden Wunde zur nächsten hetzen sehen, vom Fieberkranken zu Erbrochenem und Ausfluß, dann zu wundgelegenen Stellen – und das Ganze wieder von

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